Von Wegen Faires Spiel! Worum’s bei der Fair Play Charta wirklich geht
Sie sind wie ein Spiegel der Gesellschaft, nur etwas klarer und mit mehr Glanz: Die Olympischen Spiele in Paris zeigen, wie ein faires Miteinander über kulturelle Unterschiede und nationale Grenzen hinweg möglich ist. Die Fair Play Charta legt dafür den Grundstein, geht aber über die Spiele hinaus. Ich bin davon überzeugt, dass wir viel davon lernen können!
Natürlich gibt es aus guten Gründen auch kritische Stimmen, wenn es um Dopingverdachtsfälle oder mangelnde Nachhaltigkeit geht. Aber sich friedlich zu begegnen und nach klaren Regeln in einen fairen Wettbewerb zu treten, hat in Zeiten von Fake News und Kriegen durchaus Nachahmungspotenzial.
Was also können wir, die wir nicht zufällig zu sportlichen Höchstleistungen antreten, von diesem fairen Spiel lernen? Was sehen wir in diesem olympischen Ausschnitt der Gesellschaft, der auch auf andere Bereiche übertragbar ist? Und was hat das alles mit Empathie und Fehlerkultur zu tun?
Schauen wir uns das Ganze genauer an!
Aus der Geschichte: von Regeln zur Lebensphilosophie
Der internationale Sportverband Panthalon wurde 1951 gegründet und hat die so genannte Fair Play Charta veröffentlicht. Inhaltlich beschreibt sie zehn Grundsätze, zu denen sich eine Person verpflichtet, welche Rolle sie auch im Sport spiele (“und sei es die eines Zuschauers”).
Im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen gibt es ähnliche Prinzipien, die auf den französischen Pädagogen, Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin zurückgehen (drei Mal unnützes Wissen über ihn findest du am Ende des Artikels). Er setzte sich maßgeblich für die Wiederbelebung der Olympischen Spiele ein und gründete 1894 das Internationale Olympische Komitee.
Der so genannte Olympismus, der heute in der Olympischen Charta verankert ist, wird beschrieben als “Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit die Eigenschaften von Körper, Wille und Geist miteinander vereint und überhöht”.
Ziel sei es, [durch] “die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung (…) einen Lebensstil zu schaffen, der auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien aufbaut”.
Word.
Eigenverantwortung: Selbstverpflichtung statt Gesetze
Weder die Fair Play Charta noch die olympischen Grundprinzipien sind Regeln oder gar Gesetze “von oben”, sondern Leitlinien, die auf einer Selbstverpflichtung beruhen.
Die Fair Play Charta bringt es auf den Punkt: “Welche Rolle ich auch immer im Sport spiele, und sei es die eines Zuschauers, ich verpflichte mich…”. Ich (selbst) verpflichte mich (eigenständig, ohne Druck von außen). Für mich ein klarer Appell an unsere (Eigen-)Verantwortung.
Es geht um eine freiwillige Selbstverpflichtung, nicht um eine gesetzliche Verpflichtung. Das dahinter stehende Prinzip wird dem Menschenbild gerecht, in dem Viktor Frankl uns als “verantwortliche und entscheidende Wesen” beschrieben hat. Konkret: Wir werden nicht von außen bestimmt (durch das Universum, die Gesetze, … welche Kräfte auch immer), sondern wir nehmen unsere Verantwortung wahr und treffen unsere Entscheidungen selbst.
Was wäre, wenn wir in Organisationen eine ähnliche Selbstverpflichtung hätten? Eine Selbstverpflichtung, den “Code of Conduct” umzusetzen und danach zu handeln, ohne Drohungen und Sanktionen, sondern weil es in unserer Verantwortung liegt?
Ich bin sicher: Sie würde mehr Klarheit über implizite Annahmen bringen, die längst explizit gemacht werden müssten.
Fair Play bedeutet Fair Mindset
Fair Play ist in erster Linie eine Frage der inneren Einstellung und nicht des äußeren Verhaltens. Sowohl in der Charta als auch in den Olympischen Prinzipien wird deutlich, dass es im Wesentlichen um eine Haltung geht. Es geht also weniger um Instrumente, Werkzeuge, Strategien nach außen, sondern vielmehr um die innere Einstellung und Haltung. (Anmerkung: in unserem Buch Wege Agiler Führung – mit Sinn haben wir hierfür die Begriffe agile doing und agile being eingeführt)
Es geht darum, sowohl “beim Sieg als auch bei der Niederlage Würde zu bewahren” (Fair Play). Und es geht darum, “den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist” (Prinzipien des Olympismus).
Was wir hier auch sehen: Der Sport wird in den Dienst der Gesellschaft gestellt, nicht umgekehrt. Es geht also um einen Beitrag zu etwas, das größer ist als wir selbst. Logotherapeutisch gesprochen geht es um das Thema der Selbsttranszendenz, indem wir uns auf etwas einlassen, das über uns selbst hinausgeht und viel weiter reicht.
Fair heißt mitfühlend – mit uns selbst und mit anderen
“Ich verpflichte mich… Die Entscheidungen der Schiedsrichter oder Wettkampfrichter zu akzeptieren, da ich weiss, dass sie wie ich das Recht haben, einen Irrtum zu begehen, aber ihr Möglichstes tun, um dies zu vermeiden.” (Fair Play Charta) Allein in diesem Punkt kann ich tiefere Aspekte des Fair Play entdecken.
- Positive Grundhaltung: Ich erkenne an, dass die andere Person ihr Bestes gibt, um ihre Rolle auszufüllen; ich gehe vom Guten aus und bereite so den Boden für das Wertvolle.
- Akzeptanz: Die Entscheidung (des Schieds- oder Wettkampfrichters) zu akzeptieren bedeutet auch, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Logotherapeutisch sprechen wir hier von einem schicksalhaften Bereich (im Gegensatz zu einem freien Bereich, den ich aktiv beeinflussen kann).
- (Selbst-)Mitgefühl: Ich bin mir bewusst, dass Menschen fehlbar sind. Wer hätte das gedacht? Und das schließt alle anderen ebenso ein wie mich selbst. Implizit kommt hier das Bestreben zum Ausdruck, mir selbst und anderen mit Wohlwollen zu begegnen, wie es ein guter Freund tun würde.
Fair meint auch Bewusst-Sein
Das Konzept des Selbstmitgefühls von Kristin Neff passt erstaunlich gut dazu. Die amerikanische Psychologin hat drei Komponenten des Selbstmitgefühls identifiziert:
- Freundlichkeit sich selbst gegenüber: Sich selbst gegenüber freundlich und fürsorglich sein. Sich selbst wie einen guten Freund behandeln. Mein Verständnis ist: Wir sehen, dass die innere Haltung des Respekts bei uns selbst beginnt – und wir können sie dann auf andere übertragen. Der wohlwollende Umgang mit uns selbst spiegelt eine positive Grundhaltung wider, die sich dann auch auf andere überträgt.
- Achtsamkeit: Gedanken und Gefühlen mit Achtsamkeit begegnen, d.h. die eigene Aufmerksamkeit auf das richten, was ist, und es anerkennen. Also nicht abzuwerten oder zu verurteilen, nicht zu dramatisieren, aber auch nicht zu ignorieren. Stichwort Akzeptanz, siehe oben.
- Verbundenheit mit allen Menschen: Anerkennen, dass Leid oder Schmerz eine Erfahrung ist, die alle Menschen teilen. In schwierigen Situationen daran denken, dass man mit dieser Erfahrung nicht allein ist. Ich bin mir sicher: Gerade bei Wettkämpfen wie den Olympischen Spielen geben alle ihr Bestes und jeder hat schon einmal eine schmerzhafte Erfahrung gemacht oder eine Niederlage erlitten (wenn nicht direkt im Sport, dann mindestens im Leben). Diese Erfahrung verbindet uns.
🎊 Das Leben? Ein Fest!
“Ich verpflichte mich… Unabhängig vom Einsatz und von der Härte des Wettkampfes aus jeder Sportveranstaltung einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen.” (Fair Play Charta)
Im Duden ist “Fest” definiert als “[größere] gesellschaftliche Veranstaltung [in glanzvollem Rahmen]”. Umgangssprachlich verstehen wir darunter oft auch Vergnügen oder Freude. Mein persönliches Verständnis ist das Zusammenkommen von Menschen, um etwas Besonderes zu feiern.
Wie auch immer: Wie wäre es, wenn wir diesen Glanz, diese Freude, diese Feierlichkeit immer wieder zum Maßstab unseres Alltags machen würden?
Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder von uns geboren wird, ist äußerst gering. Das sollte Grund genug sein, das Leben zu feiern, wie schwer es auch sein mag. Natürlich erscheint es unangemessen, kurz nach einer Kündigung oder dem Bekanntwerden einer schweren Krankheit in Feierlaune zu verfallen, logisch.
Aber es scheint mir eine gute Idee zu sein, gerade im Alltag ab und zu die Freude und das Vergnügen, mit anderen zusammen zu sein, bewusst zu feiern. Oder sich wieder einmal bewusst zu machen, dass es nicht selbstverständlich ist, in Frieden zu leben. Oder die schier unwahrscheinliche Tatsache zu feiern, dass gerade wir am Leben sind.
Wie würde sich unser Grundgefühl verändern, wenn wir dem Alltag mit der Haltung begegnen würden, aus jedem Erlebnis einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen? Selbst wenn das nur in einem Teil der Fälle gelingt, wäre das nicht schon ein Gewinn für uns und unsere Mitmenschen, die mit uns feiern könnten?
🎯 Mehr als nur ein Spiel!
Die Fair Play Charta zeigt uns, dass Fair Play nicht nur im Sport, sondern auch im täglichen Leben von zentraler Bedeutung ist. Sie fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen und stets fair zu handeln.
Dabei geht es um mehr als nur Regeln – es geht um unsere innere Einstellung und Haltung. Wenn wir beginnen, diese Prinzipien in unserem Alltag umzusetzen, können wir eine positive Veränderung in unserer Gesellschaft bewirken.
Stellen wir uns vor, wir würden jeden Augenblick unseres Lebens zu einem Fest machen, mit Respekt und Mitgefühl für uns selbst und für andere. Das ist eine Herausforderung, aber die Belohnung – ein harmonischeres und erfüllteres Leben – ist es wert.
Lassen wir uns von der Fair Play Charta inspirieren, nicht nur für den Sport, sondern als Leitlinie für ein friedlicheres und respektvolleres Miteinander!
P.S. Unnützes Wissen zu Coubertin – das nachdenklich stimmt
Hier noch drei interessante (aka überraschende, teils schockierende) Fakten rund um Coubertin, über die ich in meiner Recherche gestoßen bin.
- Athen statt Paris: Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit fanden 1896 in Athen statt – gegen Coubertins Willen. Er wollte die ersten Spiele in seine Heimatstadt Paris holen. Das IOC entschied sich jedoch für Athen, in Anlehnung an die antiken Spiele. Coubertin hätte wohl seine wahre Freude an den diesjährigen Spielen in Paris gehabt.
- Kunst war olympisch! Von 1912 bis 1948 gab es auch Kunstwettbewerbe bei den Olympischen Spielen. Diese wurden in den Bereichen Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei ausgetragen. Alle Kunstwerke mussten dabei einen Bezug zum Sport aufweisen. Coubertin selbst wurde 1912 unter einem Pseudonym Olympiasieger der Disziplin Literatur. Was wäre, wenn Kunst wieder olympisch würde?
- Männer als bessere Athleten? Nicht! Nach Coubertins olympischem Idealbild sollten nur erwachsene, männliche Einzelkämpfer teilnehmen, ähnlich dem antiken Vorbild. Frauen von der Teilnahme an den Spielen auszuschließen, konnte er auf Dauer nicht durchsetzen. Ein Glück!
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!