Summer Sadness – Und was mir noch nie dabei geholfen hat
Ein Paradox, mindestens drei Erklärungen: von Japan bis Literatur
Es passiert mir jedes Mal. Mit Ansage. Ohne Halt. Spätestens am Tag vor der Abreise.
Manchmal mit einem grumpy mood, manchmal mit ein paar Tränen. Immer mit einem schweren Herzen: die Summer Sadness. So auch dieses Mal, auf dem Rückweg von Skandinavien, nach zwei Wochen Urlaub mit Midsommar-Magie.
Immer, wenn sich eine solche Auszeit dem Ende nähert, werde ich melancholisch. Ich bin traurig, dass die besondere Zeit vorbei ist.
Rationale Geister sagen, man solle sich doch lieber über das freuen, was man erlebt hat, anstatt ihm hinterherzutrauern. Stimmt vielleicht, klappt aber nur bedingt. Dieser Rat ist kognitiv nachvollziehbar, hat mir aber noch nie geholfen.
Dass ich nicht die einzige bin, der es so geht, wird an der Vielfalt der Begrifflichkeiten deutlich, die diese sonderbare Art der Traurigkeit beschreiben.
- In Japan hat das Phänomen dieser Vergänglichkeit einen eigenen Begriff: mono no aware.
- Der Autor Benedict Wells hat eine neue Wortkreation dafür geschaffen: Euphancholie.
- Und die Amerikanerin Susan Cain hat dem Thema gar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet.
Enjoy the sadness!
🔎 Aus der Praxis: japanische Wehmut
Was bedeutet mono no aware?
Mono no aware ist eine japanische Redewendung für das Bewusstsein der Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit der Dinge.
Sie beschreibt einerseits eine vorübergehende sanfte Traurigkeit (oder Wehmut). Andererseits bezeichnet sie auch eine längere, tiefere sanfte Traurigkeit darüber, dass dieser Zustand die Realität des Lebens ist.
Es geht um die Vergänglichkeit der Schönheit, das leise, beschwingte, bittersüße Gefühl, Zeuge des schillernden Zirkus des Lebens gewesen zu sein – in dem Wissen, dass nichts davon von Dauer sein kann.
Die Ästhetik [von mono no aware] liegt in der leisen Freude, die unweigerlich mit der Traurigkeit verbunden ist: die Freude, dass wir die Schönheit eines Menschen oder einer Sache erleben durften, sei sie auch noch so kurzlebig gewesen. – Yasemin Besir, Japan Digest
Wann und wie zeigt sich mono no aware?
Ein besonders prägnantes Beispiel aus Japan ist die Zeit der Kirschblüte: wunderschön, in voller Pracht, Ausdruck der lebendigen Natur. Und gleichzeitig so vergänglich, eben weil die Natur in Kreisläufen existiert und bald alles verblüht sein wird.
Bei unserem Aufenthalt in Schweden war es das besondere Licht und die magische Atmosphäre der langen Tage rund um Midsommar. Das Erlebnis der Feierlichkeiten in “unserem” Dorf haben nur noch einen drauf – wohlwissend, dass jedes Lied und jeder Tanz einmalig in diesem Moment sein würden.
💬 On words
In dem bewegenden Coming-of-Age-Roman Hard Land wird das Gefühl zwischen Berührung, Hingabe einerseits und Wehmut und Trauer andererseits mit einer neuen Wortkreation beschrieben:
So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird. Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt. – Benedict Wells, Hard Land
Der Autor Benedict Wells erklärt seine Wortschöpfung so (und ja, es gibt tatsächlich eine Baseball-Cap mit der Aufschrift Euphancolie..):
Das Wort ist eine Mischung aus ›Euphorie‹ und ›Melancholie‹. Einerseits ist man fast zerrissen vor Glück, aber auch wehmütig, weil der Moment bald vorbeigehen wird; man vermisst ihn schon jetzt.
Generell habe ich es als Jugendlicher oft selbst erlebt, dass man selbst nach schlimmsten Erfahrungen plötzlich in ausgelassenes Gelächter ausbrechen konnte – und umgekehrt. Dieses schnelle, manchmal völlig unlogische Umschlagen der Emotionen hat mich immer fasziniert, alles geschah gleichzeitig. Oder um es mit einem 80s-Song zu sagen: Dancing With Tears In My Eyes.
Wer richtig eintauchen will, dem sei die gleichnamige Playlist Euphancholie von Benedict Wells empfohlen.
🔎 Aus der Forschung: Bittersweetness
Die amerikanische Autorin Susan Cain hat dem paradoxen Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet – How Sorrow And Longing Make Us Whole. Sie schreibt dazu:
If you’ve ever wondered why you like sad music …
If you find comfort or inspiration in a rainy day …
If you react intensely to music, art, nature, and beauty …
Then you probably identify with the bittersweet state of mind.
Wozu dient Bittersweetness überhaupt?
Susan Cain beschreibt die Frage nach dem bittersüßen erleben (jeweils eigene Übersetzung aus dem Englischen):
Philosophen nennen dies das „Paradoxon der Tragödie“ und rätseln seit Jahrhunderten darüber. Warum freuen wir uns manchmal über den Kummer, während wir den Rest der Zeit alles tun, um ihn zu vermeiden? Jetzt beschäftigen sich auch Psychologen und Neurowissenschaftler mit dieser Frage und haben verschiedene Theorien aufgestellt:
Eine Mondscheinsonate kann für Menschen, die einen Verlust oder eine Depression erleben, therapeutisch sein; sie kann uns helfen, negative Gefühle zu akzeptieren, anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen; sie kann uns zeigen, dass wir mit unseren Sorgen nicht allein sind.
Wir mögen zum Beispiel keine Listen mit traurigen Wörtern oder Diashows mit traurigen Gesichtern (dies haben Forscher tatsächlich getestet). Was wir lieben, sind elegische Gedichte, nebelumhüllte Küstenstädte, Türme, die durch die Wolken ragen. Mit anderen Worten: Wir mögen Kunstformen, die unsere Sehnsucht nach Vereinigung und nach einer perfekteren und schöneren Welt ausdrücken.
Traurige Musik und melancholische Poesie – jetzt echt?
Kürzlich haben die Neurowissenschaftler Matthew Sachs und Antonio Damasio zusammen mit der Psychologin Assal Habibi die gesamte Forschungsliteratur über traurige Musik ausgewertet. In ihrem Artikel The Pleasures of Sad Music haben sie festgestellt, dass sehnsuchtsvolle Melodien unserem Körper helfen, eine Homöostase zu erreichen – einen Zustand, in dem unsere Emotionen und unsere Physiologie innerhalb eines optimalen Bereichs funktionieren.
Sie liefern Antworten auf die Frage, wie es sein kann, dass das menschliche Überleben von der Vermeidung (!) schmerzhafter Erfahrungen abhängt, der seelische Schmerz aber oft ausdrücklich in der Musik gesucht wird. Es scheint mindestens drei Erklärungen zu geben.
Traurigkeit, die durch Musik hervorgerufen wird, wird als angenehm empfunden:
- wenn sie als nicht bedrohlich wahrgenommen wird;
- wenn sie ästhetisch ansprechend ist; und
- wenn sie psychologische Vorteile wie Stimmungsregulierung und empathische Gefühle hervorruft, z. B. durch die Erinnerung an und das Nachdenken über vergangene Ereignisse.
Vielleicht ist das dein Call, doch mal in die euphancholische Playlist von Benedict Wells einzutauchen…?
In wie fern hat das Bittersüße auch etwas Wertvolles?
Schließlich erinnert uns (mich zumindest), dass dieser euphancholische Zustand auch sein Gutes hat:
Erinnerst du dich an die sprachlichen Ursprünge des Wortes Sehnsucht: Der Ort, an dem du leidest, ist der Ort, an dem du dich sorgst. Du leidest, weil du dich sorgst. Deshalb ist die beste Reaktion auf Schmerz, tiefer in die Sorge einzutauchen.
Es ist oft dort, wo wir den größten Schmerz empfinden, dass unsere Werte besonders sichtbar werden. Das, was uns viel bedeutet, wird verletzt.
In diesem Sinne: never stop yearning, never stop caring.