What the f*ck? Warum uns fragen hilft. Und fluchen auch.

Er kommt unscheinbar daher, der kleine Kringel über dem Punkt. Es kann Sätze verändern, aber auch Beziehungen oder das alltägliche Miteinander.

Das Fragezeichen ist vielleicht eines der mächtigsten Satzzeichen (wenn es so etwas überhaupt gibt), weil es Fragen ihren Charakter verleiht. Und Fragen können herausfordern, neue Einsichten generieren, Beziehungen (weiter-)entwickeln. Sie können vermeintlich klein und dann wieder groß sein, den Alltag umspannen und den Ursprung des Universums in Frage stellen.

Fragen sind mächtig. Wenn wir fragen, sind wir es auch, zumindest ein bisschen. Nicht umsonst heißt es oft: “Wer fragt, führt”.

Aber was für Fragen gibt es überhaupt (keine Angst, das wird keine Abhandlung über die deutsche Grammatik)? Wem sollen wir Fragen stellen? Und welche Bedeutung können Fragen haben?

Übrigens: kürzlich wurde ich von Magazin “Ethik Heute” zum Thema Weisheit befragt (wie auch drei andere Personen). Unter anderem dazu, wie wir uns der Weisheit im Alltag annähern können. Die Antworten findest du hier.


Fragen für Lebensführung – Allgemeine und ganz persönliche

Fragen können uns helfen, Entscheidungen im Leben zu treffen. Sie können uns helfen, unseren Alltag so zu gestalten, dass unsere Werte verwirklicht werden und wir Sinn erfahren.

Es gibt allgemeine Fragen, die sich im Prinzip jeder Mensch stellen kann.

Drei meiner Lieblingsfragen sind

  1. Was würdest du tun, wenn es einfach wäre? (großartige Frage von Tim Ferris, im Original: what would it look like if it were easy?)
  2. Wenn du es niemandem zeigen und niemandem davon erzählen könntest, würdest du es trotzdem tun?
  3. Was würdest du tun, wenn Geld keine Rolle spielen würde?

Dann gibt es spezifische Fragen, die (primär) nur für uns selbst relevant sind.

Richard Feynman, Physiker und Nobelpreisträger 1965, wurde und wird oft als Genie bezeichnet. Seinen Erfolg führte er darauf zurück, dass er seine Forschung und damit auch sein Leben auf bestimmte Fragen ausrichtete. Er machte es sich zur Gewohnheit, seine “12 Lieblingsprobleme” (engl. twelve favorite problems) aufzuschreiben und regelmäßig zu überprüfen.

Sie müssen ein Dutzend Ihrer Lieblingsprobleme ständig im Kopf behalten, auch wenn sie im Großen und Ganzen in einem schlafenden Zustand liegen werden. Jedes Mal, wenn Sie einen neuen Trick oder ein neues Ergebnis hören oder lesen, testen Sie es an jedem Ihrer zwölf Probleme, um zu sehen, ob es hilft. Hin und wieder wird es einen Treffer geben, und die Leute werden sagen: „Wie hat er das gemacht? Er muss ein Genie sein! (freie Übersetzung aus dem Englischen)

Mein Tipp: fang’ an und schreibe deine “Lieblingsprobleme” runter.

Du kommst nicht direkt auf 12? Auch okay, es bleibt genug zu tun, wenn du mit den ersten drei oder sechs startest…


Fragen für Erkenntnisgewinn: Was denkst du?

Fragen beschäftigen uns aber nicht erst seit der Neuzeit. Ganz im Gegenteil: Eine besondere Art der Gesprächsführung mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns basiert ganz auf Fragen. Die Rede ist vom Sokratischen Dialog.

Statt seinen Schülern “klassisch” Wissen durch Frontbeschallung zu vermitteln, stellte Sokrates ihnen viele Fragen, um den persönlichen Erkenntnisgewinn zu fördern.

In ihrem Buch Management by Sokrates haben die Autoren Wisniewski und Niehaus (2016) sieben Fragetypen dargestellt (S. 93 ff.). Ich habe sie hier einmal in meinen Worten zusammengefasst und Beispielfragen zum Thema (Selbst-)Führung gegeben.

1. Bedeutungsfragen

Die Fragen nach dem „Was“ zielen darauf ab, das Wesen und die Bedeutung einer Sache zu hinterfragen. Sie helfen, den Kern und die grundlegenden Prinzipien eines Themas zu erfassen. Beispiele jeweils nachfolgend.

  • Was ist gute Führung?
  • Was sind Beispiele für gute Selbstführung?
  • Was ist die gesellschaftliche Verantwortung der Organisation?

2. Konkretisierungsfragen

Konkretisierungsfragen dienen dazu, allgemeine Aussagen in spezifische, erlebte Situationen zu übersetzen und so Klarheit zu schaffen.

  • Was genau haben Sie erlebt, als Sie das Gefühl hatten, Ihre Selbstführung zu optimieren?
  • Warum ist dies ein gutes Beispiel für die aktuelle Herausforderung im Team?
  • Können Sie diese Überlegung näher beschreiben?

3. Unterscheidungsfragen

Diese Fragen klären Unterschiede in Wahrnehmungen und Bewertungen, um Nuancen und Details sichtbar zu machen.

  • Worin unterscheidet sich Ihr Führungsstil von dem Ihrer Kollegen?
  • Besteht diese Schwierigkeit immer oder gibt es Ausnahmen?
  • Gibt es Situationen, in denen Ihre Selbstführung weniger effizient ist? Wenn ja, welche?

4. Hypothetische Fragen

Hypothetische Fragen eröffnen neue Perspektiven und ermöglichen das Denken in alternativen Szenarien. Im Coachingkontext werden sie auch oft als „Wunderfrage“ bezeichnet.

  • Stellen Sie sich vor, in einem Jahr haben Sie alle Ihre persönlichen Entwicklungsziele erreicht, wie sieht Ihr Alltag dann aus?
  • Angenommen, eine Wunschfee würde Ihnen drei Wünsche erfüllen, welche wären das?
  • Angenommen, Sie sind ab morgen Firmeninhaberin. Was würde sich verändern?

5. Fragen zweiter Ordnung

Diese Fragen beziehen sich auf komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren. Sie reflektieren Selbst- und Fremdwahrnehmung und die entsprechenden Zuschreibungen.

  • Was glauben Sie, würde Frau X zu diesem Problem sagen?
  • Wie würde ein Außenstehender über Ihre Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Führungsperson sagen?
  • Wenn Herr Y hier wäre, was würde er uns bezüglich der bevorstehenden Neustrukturierung raten?

6. Ziel- und lösungsorientierte Fragen

Diese Fragen fokussieren sich auf Ziele und Lösungen und helfen, den Handlungsspielraum zu erkunden, in dem sie neue Handlungsalternativen und andere Denkweisen fördern.

  • Welche Schritte sind zur Zielerreichung notwendig?
  • Woran werden Sie im Arbeitsalltag merken, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?
  • Was möchten Sie konkret durch Ihre werteorientierte Führung erreichen?

7. Paradoxe Fragen

Paradoxe Fragen provozieren durch Überzeichnung und Zuspitzung und können so neue Erkenntnisse und Handlungsweisen stimulieren. Sie wirken durch die Kontrastierung eines Sachverhaltes bzw. zur Reflexion der „anderen“ Seite.

  • Was können Sie tun, um sicherzustellen, dass Ihre Führung als völlig wertlos wahrgenommen wird?
  • Was müssten Sie tun, damit Ihre Bemühungen zur Selbstführung garantiert scheitern?
  • Wie könnten Sie Ihre Führung so gestalten, dass Ihre Mitarbeiter absolut unmotiviert wären?

What the f*ck? Fragen als Superpower | MEANING + More

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Fragen zur Reflexion: Going Deep

Schließlich gibt es Fragen, die wir uns selbst (oder unseren Freunden) stellen können, bei denen es mehr um das Nachdenken als um eine einzige Erkenntnis geht.

Von diesen Fragen gibt es mindestens so viele, wie es Menschen auf der Welt gibt.

Zu Beginn der Pandemie hat die Bewegung “This Human Moment” nicht nur schöne Fragen aus der Poesie zusammengetragen, sondern auch eine Liste mit 53 Beautiful Questions for this Moment zusammengestellt.

Meine Favoriten aus dieser Liste?

  • Welche Frage sind wir jetzt bereit zu stellen, die wir vorher nicht gestellt haben? (engl.: What question are we now willing to ask that we weren’t before?)
  • Was sagt mir mein Körper? (engl.: What is my body telling me?)
  • Wer werde ich, während ich tue, was ich tue? (engl.: Who am I becoming while I’m doing what I’m doing?)

And you, when will you begin that long journey into yourself? – Rumi


Fragen und Fluchen: Mehr Support geht nicht

Die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen, scheint eine Superkraft zu sein. Sie kann uns zu mehr Klarheit, neuen Einsichten oder anderen Perspektiven verhelfen.

Fragen können uns in unserem Alltag in mindestens drei Aspekten unterstützen.

  1. Fragen können uns helfen, unseren Alltag nach bestimmten Werten auszurichten oder bessere Entscheidungen zu treffen.
  2. Fragen können uns auch helfen, Einsichten zu gewinnen oder eine neue Perspektive einzunehmen.
  3. Fragen können Reflexionsprozesse in Gang setzen, gemeinsam oder mit Freunden (bye bye Small Talk, hello Deep Talk!).

Und dann gibt es Fragen, die einfach nur ein impulsiver Ausruf sind, wie “What the f*ck?” oder “Was zum Teufel…?”. Wer glaubt, dass es sich dabei um unhöfliches Verhalten handelt, wird von der Wissenschaft eines Besseren belehrt.

Eine Studie mit über 250 Teilnehmenden konnte zeigen, dass Fluchen helfen kann, Stress abzubauen und sogar Symptome von Angst und Depressionen zu lindern.

Also: Worauf wartest du noch? Fang an zu fragen (und/oder zu fluchen..)!

Ikigai und Logotherapie – Auf der Suche nach Verbindungen

Stell‘ dir zwei Lebensgeschichten zur gleichen Zeit vor, eine in Österreich, die andere in Japan. Beide Biographien sind geprägt von Schicksalsschlägen, von tiefem Leid, vom Nachdenken über Traurigkeit, Hoffnung und Trauer.

Zwei Menschen, die darüber nachdenken, was das Leben lebenswert macht, was dem Leben einen Sinn gibt. Der eine ebnete aus eigener Erfahrung den Weg zur sinnzentrierten Psychotherapie (Viktor Frankl), die andere entwickelte und lebte mit ganzem Herzen das Konzept des Ikigai (Mieko Kamiya). Aber ihre Wege haben sich nie gekreuzt. Die Frage stellt sich…

Was wäre, wenn Viktor Frankl und Mieko Kamiya sich begegnet wären?

Sie hätten vielleicht darüber nachgedacht, wie man angesichts politischer Instabilität, zunehmender psychischer Probleme in der Gesellschaft und des Sinnverlusts vieler Menschen einen Sinn finden kann. Vielleicht hätten sie sich genüsslich zu einer Wiener Melange oder gar einer traditionellen Teezeremonie niedergelassen (um hier alle Klischees zu bedienen).

Als Begründer der Logotherapie (Viktor Frankl) und der Ikigai-Psychologie (Mieko Kamiya) hätten sie sich vielleicht auch über ihre Quellen dessen ausgetauscht, was ihr Leben trotz oder gerade wegen allen Leids lebenswert macht. Vielleicht hätten sie auch über ihre Ansätze, dem Leben einen Sinn zu geben, und über ihre Beziehung zueinander gesprochen.

All das hätte passieren können, aber wir können es nicht wissen. Wir können aber Zusammenhänge erforschen, die zu ihren Lebzeiten noch nicht entdeckt waren.


Über das Leiden – Eine Lebenszeit, viele Erfahrungen

Viktor Frankl und Mieko Kamiya stellten sich vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen großen Leids Fragen wie…

  • Was gibt Menschen Hoffnung im Angesicht von Leiden?
  • Was brauchen Menschen, um sich weniger als Opfer und mehr als aktive Gestalter ihres Lebens zu fühlen?
  • Wie können wir Zeiten von tiefer Trauer und Kummer überwinden?

Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten. Nichts anderes kommt uns Menschen zu! – Viktor Frankl

Beide haben viel über das Leiden nachgedacht, geschrieben und gesprochen. Es ist erstaunlich, wie sehr ihre Einstellung zum Leiden, ihr Umgang damit und ihre Integration des Leidens in das Leben ihrer Einstellung zum Leben ähneln.

Haltung: Viktor Frankl und Mieko Kamiya sahen das Leiden als Teil des Lebens – und trotzdem (oder gerade deshalb) kann das Leben besonders lebenswert sein.

Anwendung: Beide waren herausgefordert, ihre Ansätze auf ihr eigenes Leben „anzuwenden“, als sie schweres Leid erfuhren.

Integration: Beide haben in ihrem eigenen Leben schweres Leid erfahren und viel darüber geschrieben; ihnen war klar, dass es mehr braucht als nur Medikamente.


Viktor Frankl (Logotherapie) und Mieko Kamiya (Ikigai) | MEANING + More

Viktor Frankl (Begründer Logotherapie) und Mieko Kamiya (Begründerin Ikigai)

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Mieko Kamiya – Hingabe an das Schreiben nach Medizin, Ehe und Mutterschaft

Mieko Kamiya, die Begründerin der Ikigai-Psychologie, wurde 1914 in Okayama, Japan, geboren. Durch den Umzug ihrer Familie in die Schweiz kam sie in ihrer Kindheit mit verschiedenen Kulturen in Kontakt und sprach später fliessend Deutsch und Englisch. Nachdem sie in ihren frühen Zwanzigern die Liebe ihres Lebens verloren hatte, suchte sie lange nach einem Sinn in ihrem Leben. Sie erhielt eine umfassende Ausbildung in klassischer Literatur und Sprachen (u.a. Italienisch, Deutsch, Französisch und Griechisch), darunter auch Marcus Aurelius, den sie später ins Japanische übersetzte.

Schon als Studentin besuchte sie zufällig ein Sanatorium und war tief beeindruckt von den Leprakranken dort. Sie spürte, dass sie eines Tages für sie arbeiten würde, aber das sollte noch einige Jahre dauern. Später begann sie ein Medizinstudium in den USA, kehrte aber aus Angst vor dem drohenden Krieg nach Japan zurück, wo sie Ärztin wurde. Schon früh behandelte sie Leprakranke und begann, sich für Psychiatrie zu interessieren.

Laut Wörterbuch bedeutet ikigai „Kraft, die man braucht, um in dieser Welt zu leben, Glück, Lebendigkeit, Nützlichkeit, Wirksamkeit“. Wenn wir versuchen, es ins Englische, Deutsche, Französische usw. zu übersetzen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, es anders als „lebenswert“ oder „Wert oder Sinn des Lebens“ zu definieren. – Mieko Kamiya

Erst nachdem sie geheiratet und zwei Kinder geboren hatte, widmete sie ihr Leben dem Schreiben, ihrem persönlichen Ikigai. Damit erfüllte sich die Vorhersage eines engen Freundes: „Ich sage dir deine Zukunft voraus. Du wirst Schriftstellerin werden, nachdem du die drei M [Medizin, Marriage (Ehe) und Mutterschaft] absolviert hast“.

Ihr bekanntestes Buch ist „Über den Sinn des Lebens“ (japanisch: Ikigai Ni Tsuite), das nie übersetzt wurde, während Auszüge aus ihren Tagebüchern in ihrer Biografie „Eine Frau mit Dämonen“ zu finden sind. Mieko Kamiya starb 1979 im Alter von 65 Jahren an einer Herzerkrankung.


Die Bedeutung von Sinn – Ikigai-kan

Das Leben der beiden hat sich zeitlich und räumlich stark überlappt. Dennoch gibt es keinen Bericht darüber, dass sie sich jemals getroffen hätten.

Wir wissen nur, dass Kamiya Frankl zitierte, als sie über Ikigai-kan, das Gefühl von Ikigai, schrieb.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort „Ikigai“ zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in „Dieses Kind ist mein Ikigai“, oder es kann sich auf den geistigen Zustand des Gefühls des Ikigai beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den „Sinn des Sinns“ nennt. Ich werde ihn „Ikigai-Kan“ nennen, um ihn von dem ersteren „Ikigai“ selbst zu unterscheiden“, sagte Mieko Kamiya.


Viktor Frankl – Perspektiven aus dem tiefsten Tal und von den höchsten Bergen

Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, wurde 1905 in Wien geboren. Der Neurologe und Psychiater begann sich im Alter von 15 Jahren mit den Themen Leere und Sinnlosigkeit zu beschäftigen, als er mit der hohen Selbstmordrate von Jugendlichen in seiner Gemeinde konfrontiert wurde.

Er hatte bereits die Grundlagen dessen geschrieben, was später als Logotherapie und Existenzanalyse bekannt wurde, bevor er während des Zweiten Weltkriegs in vier Konzentrationslager kam. Natürlich konnte er nichts mitnehmen und verlor alle seine Manuskripte. Schlimmer noch, er verlor seine Frau, seine Eltern und enge Freunde im Krieg.

Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, muss auch Leiden einen Sinn haben. Es kommt nicht darauf an, was man leidet, sondern wie man es auf sich nimmt. – Viktor Frankl

Es heißt, er habe nur neun Tage gebraucht, um alle grundlegenden Konzepte niederzuschreiben. Sein Buch „Die Suche des Menschen nach dem Sinn“ wurde zu einem der meistverkauften Bücher aller Zeiten.

Weniger bekannt ist, dass er trotz seiner Höhenangst ein großer Bergsteiger war. Nachdem er seine erste Frau verloren hatte, heiratete er erneut und nahm spät in seinem Leben Flugstunden. Im Alter von 68 Jahren erwarb Frankl den Alleinflugschein. Nachdem er die Logotherapie und Existenzanalyse weiterentwickelt hatte, arbeitete er mit vielen Patienten und gab seine Erfahrungen in der ganzen Welt weiter, nicht zuletzt in den USA und in Japan. Viktor Frankl starb 1997 in Wien.


Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie

  1. Sinn und Ikigai sind nicht das eine große Ding im Leben, vielmehr beschreiben sie beide Dinge, Menschen, Momente, die das Leben lebenswert machen.

Eine Person, die am ehesten ein Gefühl von Ikigai verspürt, ist von ihrer Lebensnotwendigkeit überzeugt, ist sich ihres Ziels der „Selbsterhaltung“ klar bewusst und setzt sich voll und ganz für dieses Ziel ein. – Mieko Kamiya, “Ikigai ni Tsuite”

Weil beide Ansätze – Ikigai und Logotherapie – davon ausgehen, dass das, wofür es sich zu leben lohnt, im Alltag, im Kleinen (und manchmal auch im Großen) zu finden ist, sind wir handlungs- und gestaltungsfähig. Auf diese Weise können wir Veränderung, Wachstum und Reaktionsfähigkeit fördern.

  1. Sinn und Ikigai sind beide höchst individuell und an die jeweilige Situation gebunden; es gibt nicht die eine Regel, was für uns sinnvoll ist.

Jeder Tag, jede Stunde wartet mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn – Viktor Frankl

Da Ikigai und Sinn individuell und situationsabhängig sind, können wir hoffnungsvoll sein. Wie reich ist unser Leben, wenn jeder Moment uns eine neue Gelegenheit bietet, zu entscheiden, wer wir in der Zukunft sein wollen?

  1. Es gibt viele Quellen für Sinn und Ikigai in unserem Leben, nicht nur eine.

In der Logotherapie und Existenzanalyse sind Werte Möglichkeiten der Sinnverwirklichung. In der Logotherapie werden drei Kategorien von Werten unterschieden: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. In Anlehnung an Mieko Kamiyas Konzept des Ikigai gibt es sieben Dimensionen: Lebenszufriedenheit, Wachstum und Veränderung, gute Zukunft, Resonanz, Freiheit, Selbstverwirklichung, Sinn und Werte.

Besonders interessant ist, dass beide Lebenskonzepte Freiheit als Grundlage für den Sinn des Lebens sehen. Auf der einen Seite bezieht sich dies auf die individuellen Entscheidungen: “[Ein Mensch, der eine persönliche Lebensaufgabe hat, die er aktiv verfolgt, lebt Ikigai auf höchstem Niveau.” – Mieko Kamiya

Andererseits ist Freiheit immer mit Verantwortung verbunden. Das sind zwei Seiten derselben Medaille – das ist der Kern dessen, was uns zu Menschen macht. Deshalb gibt uns jeder Augenblick (individuell) eine neue Chance zu entscheiden, wer wir einmal sein wollen.


Ikigai & Logotherapie – Eine vorläufige Zusammenfassung

Auch wenn es viele Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie gibt, die noch erforscht werden müssen, können wir heute drei Punkte miteinander verbinden.

  • Erstens sahen Viktor Frankl und Mieko Kamiya das Leiden einfach als Teil des Lebens (und nicht als katastrophale Ausnahme vom Alltag). Als Menschen können wir jedoch entdecken, was für uns lebenswert ist.
  • Zweitens: Ikigai-kan und Sinn finden wir im Tun und Sein (nicht im Denken und Reden darüber) – und es ist immer einzigartig und besonders.
  • Drittens: Es ist unsere Freiheit, in jedem Moment eine Entscheidung zu treffen. Wir können unsere Umwelt nicht immer ändern oder beeinflussen, aber wir haben immer die Freiheit, unsere Einstellung zu ihr zu ändern.

Was die Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben – und was uns trennt

Die Frage “Arbeitest du mit der zusammen?” erreichte mich vor einer Woche per WhatsApp. Verlinkt war ein Instagram-Post von Influencerin Laura Seiler, der die Grafik eines Abreißzettels zeigte: „Nimm, was du brauchst“.

Warum die Frage nach einer Kooperation?

Vermutlich, weil ich selbst gut zwei Wochen vorher über meinen Account @meaningandmore ein Foto des Abreißzettels geteilt hatte, den ich mit eigenen Illustrationen und kleinen Übungen für Pausen im Alltag gestaltet hatte. Der Titel? Nimm’ dir, was du brauchst.

Die kurze Antwort: Nein, wir arbeiten nicht zusammen.

Wie es zu dieser frappierenden Ähnlichkeit der beiden Posts kommt, kann ich mir nicht erklären. Laura übrigens auch nicht: Auf meine direkte Frage, die nur in den Kommentaren stellen konnte, bekam ich zwar ein Like-Herzchen, aber keine Antwort.

Ein Schelm, wer denkt, dass Lauras Post eine bewusste Kopie meiner Arbeit sein könnte (gleichwohl das Thema Plagiate bei Social Media Content groß zu sein scheint)!

Die längere Antwort: folgt in diesem Newsletter.

Uns beide verbindet vieles in unserer Arbeit. Und mehr Sachen trennen uns. Nehmen wir die beiden Instagram-Posts als Beispiel, um einige Dinge zu verdeutlichen.


Für mehr Unterstützung durch innere Arbeit

Nach allem, was ich gesehen und gelesen habe, haben Laura und ich gemeinsam, dass wir mit unserer Arbeit Menschen helfen und Gutes tun wollen.

Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen möchten wir andere auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil und mehr Wohlbefinden durch innere Arbeit unterstützen.

  • Einerseits wollen wir Menschen ermutigen, sich auch herausfordernden Themen zuzuwenden, denn wir sind überzeugt, dass wir viele Ressourcen in uns tragen. Je klarer wir unsere eigenen Prägungen, Glaubenssätze und Muster erkennen, desto besser können wir mit ihnen arbeiten oder sie überwinden.
  • Andererseits wollen Laura und ich beide Wege aufzeigen und konkrete Hilfestellungen geben, um Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Das können bspw. Übungen wie Meditationen oder Atemtechniken sein.

Im Fall der beiden Instagram-Posts war es die wohlwollende Aufforderung, sich das zu nehmen, was man gerade braucht. Und das kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, deshalb gibt es jeweils verschiedene Optionen (zufällig genau fünf in beiden Posts).

Unser Ansatz ist jedoch ein ganz anderer.


Was Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben - und was uns trennt | MEANING + More

Collage mit Screenshots von Instagram-Posts (Dr. Nina Bürklin)


Schnelles Glück oder tiefer Sinn: Was macht ein gutes Leben aus?

Wenn wir von Wohlbefinden sprechen, ist ein gelingendes Leben nicht weit weg. Viele glauben, dass ein gutes Leben mehr mit Glück (engl. happiness) als mit Sinn (engl. meaning) zu tun hat.

Es ist eine dieser Fragen, über die sich seit Jahrtausenden viele Philosophen (und andere kluge Menschen) den Kopf zerbrochen haben, Stichwort: eudiamonia vs. hedonia.

Auch die moderne Forschung von Roy F. Baumeister und Kollegen zeigt, dass es sich um zwei grundverschiedene Dinge handelt. Glücklich sein und das Leben als sinnvoll empfinden überschneiden sich, aber es gibt auch wichtige Unterschiede.

Was also führt zu einem gelungenen Leben?

Ich selbst gehöre zum “Team Meaning” und bin überzeugt, dass ein gutes Leben nicht immer nur aus dem Schönen, Leichten und Angenehmen besteht, sondern dass wir dafür wachsen müssen — auch und gerade durch Krisen, die wir durchleben.

Das Leben verlangt uns etwas ab, wir müssen uns engagieren. Und das gelingt dann besonders gut, wenn wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und unser Leben aktiv gestalten (siehe auch unten: Menschenbild), wenn wir uns also von einer Sinnorientierung leiten lassen.


Langsames Glück (aka Sinnerleben) erfordert Engagement

Die Philosophin Rebekka Reinhard nutzt andere Begriffe. Sie vergleicht schnelles und langsames Glück und gibt damit Hinweise auf ein gutes Leben:

Jedes Glück, das sofort gute Laune macht, ist schnelles Glück. Es kommt schnell, ist aber auch schnell wieder vorbei. Daneben existiert still und leise das langsame Glück. Langsames Glück ist unspektakulär, dafür aber wenig störanfällig. Wenn Sie seinen Wert erkennen, begleitet es Sie in allem, was Sie tun, denken und fühlen. (…) Langsames Glück verlangt lebenslanges Engagement von Hirn und Herz. Schnelles Glück will man haben, langsam glücklich wird man.

— Rebekka Reinhard, Die Kunst, gut zu sein

Die gleiche Haltung hatte ich auch bei der Entwicklung meines Abreißzettels. Während die Optionen des Abreißzettels bei Laura schlicht “Magie”, “Fokus” oder “Ruhe” beinhalten, gibt es in meinem Post jeweils eine konkrete Übung pro Stichwort, um den Transfer in den Alltag noch mehr zu erleichtern.

Stimmt, diese 10-12 Worte müssen gelesen und – noch krasser – tatsächlich umgesetzt werden. Wir müssen uns engagieren, um von einem “weiten Blick” oder einem “ruhigen Atemzug” zu profitieren. Die kurze Stille, das bewusste Lächeln oder ein ruhiger Herzschlag kommen nicht von selbst.

In Lauras Caption steht lediglich der Hinweis “Kommentier’s unten, damit es zu dir kommen kann”. Inwiefern ein Kommentar von mir unter Lauras Post zu mehr Fokus bei mir führen sollte, verstehe ich nicht.

Es scheint einfacher und/oder bequemer zu sein, etwas in den sozialen Medien zu kommentieren, als sich beispielsweise 30 Sekunden Zeit für eine bewusste Atemtechnik oder eine vielfach erprobte Achtsamkeitspraxis zu nehmen.

Während die Leser meines Posts also im besten Fall ihre Sinne geschärft und sich einen Moment der Ruhe gegönnt haben, haben mittlerweile über 700 von Lauras Followern einen Kommentar hinterlassen.

Möge die Magie mit ihnen sein.


Freiheit oder Bestimmung durch’s Universum: Wie unser Menschenbild unsere Arbeit prägt

Ich kann die Sehnsucht nach Einfachheit Komplexitätsreduktion in unserer heutigen Welt gut nachvollziehen. Wer von uns hat sich nicht schon einmal gewünscht, dass alles einfacher wäre: entweder schwarz oder weiß, entweder gut oder böse. Doch so leicht ist es leider nicht.

In meiner Arbeit stelle ich mich dieser Herausforderung immer wieder.

  • Ich versuche einerseits, die oft abstrakten Begriffe der Logotherapie nach Viktor Frankl (meiner philosophischen und therapeutischen “Heimat”) zu erklären und mit alltagsnahen Beispielen zu füllen, so auch in diesem Newsletter.
  • Zum anderen bemühe ich mich, wo immer möglich, aktuelle Forschungsergebnisse einfließen zu lassen, sie entsprechend einzuordnen und etwas umgangssprachlicher zu formulieren.

Deswegen war es mir wichtig, in der Caption meines Instagram-Posts auf die weiterführende Website zu verweisen, auf der neben weiteren Übungen auch eine ausführliche Erklärung mit wissenschaftlichem Hintergrund zu finden ist.

In der Caption von Lauras Post hingegen ist zu lesen, dass sie eine “Portion Magic” braucht. Es gibt aber keinen Hinweis, wie sie diese bekommt.

Gut möglich, dass sich unser Anspruch an einen Instagram-Post hier unterscheidet: schnelles vs. langsames Glück? Und auch gut möglich, dass ihr Beitrag deswegen über 4.000 Likes bekommt.


Wie wir auf die Welt schauen, so arbeiten wir auch

Ein klares Menschenbild zu haben, das ich meiner Arbeit zugrunde lege, erscheint mir elementar. Ich gehe sogar noch weiter: Ohne ein klares Menschenbild könnte ich meine Arbeit nicht machen.

Ich selbst durfte mir im Rahmen meiner 3,5-jährigen Ausbildung die Grundlagen der Logotherapie zu eigen machen und in weiteren Fortbildungen vertiefen. Dazu gehört auch die Haltung, dass wir verantwortlich sind: Das Leben stellt die Fragen und wir haben zu antworten.

Mensch sein heißt bewusst sein und verantwortlich sein. — Viktor Frankl

Drei Punkte sind in Summe streitbar, aber klar verankert in der Logotherapie:

  1. Freier Wille. Das Zitat bringt den Kern des Menschenbildes nach Frankl auf den Punkt, demzufolge wir Menschen freie und entscheidende Wesen sind. Konkret bedeutet es, dass wir nicht von außen bestimmt werden und dass wir uns zu einer gegebenen Situation immer so oder so einstellen können. Es heißt nicht, dass wir immer etwas aktiv steuern oder direkt beeinflussen können, sondern dass wir über unsere Haltung zu den Dingen entscheiden können.
  2. Der Wille zum Sinn. Laut Frankl ist Sinn die stärkste Motivationskraft des Menschen. Wir streben also danach, sinnerfüllt zu leben. Damit hebt er sich klar von seinen Vorgänger ab, die unsere Triebe (Freud; 1. Wiener Schule) oder unser Streben nach Macht (Adler; 2. Wiener Schule) als Grundmotivation menschlichen Handelns sehen.
  3. Sinn im Leben. Grundlage der Logotherapie ist, dass unser Leben immer Sinn in sich trägt. Das heißt nicht, dass es sich in jedem Moment sinnvoll anfühlt. Wohl aber bedeutet diese Auffassung, dass es uns (sofern wir nicht zu stark psychisch oder anderweitig eingeschränkt sind) zu jedem Zeitpunkt möglich ist, dem Leben einen Sinn abzuringen.

Es geht mir nicht drum, dass alle Leser dieses Artikels dem zustimmen oder die gleiche Haltung haben. Mir ist es wichtig, dieses explizite Menschenbild als Grundlage meiner Arbeit transparent zu machen und danach zu handeln.

Bei Laura konnte ich ein solches Menschenbild nicht entdecken. Bei vielen anderen Coaches und Therapeuten übrigens auch nicht.


Schneller Kommentar oder aktives Engagement: was zählt?

In einer Welt, die nach schnellen Lösungen und einfachen Antworten verlangt, ist es verlockend, sich auf das zu konzentrieren, was leicht und angenehm ist. Ein Like-Herzchen hier, ein schneller Kommentar dort.

Doch wahres Wachstum und tiefes, langfristiges Glück erfordern mehr. Sie verlangen Engagement, die Bereitschaft, sich immer wieder den Herausforderungen zu stellen und der Verantwortung für das eigene Leben gerecht zu werden. Sie verlangen, aktiv zu bleiben.

Um wirklich lebendig zu bleiben, müssen wir uns für Mut statt Bequemlichkeit entscheiden. Nur so können wir wachsen, aufsteigen und uns selbst herausfordern.

– Susan David, Emotionale Beweglichkeit

Menschen wie Laura und ich mögen auf den ersten Blick ähnliche Ziele verfolgen, doch unsere Ansätze könnten kaum unterschiedlicher sein.

Trotzdem bin ich überzeugt: Unsere jeweilige Intention ist genuin gut. Und so wird jede von uns genau die Menschen ansprechen und abholen, die von unseren jeweiligen Arbeit profitieren.

Mögen wir beide glücklich sein.

Von Wegen Faires Spiel! Worum’s bei der Fair Play Charta wirklich geht

Sie sind wie ein Spiegel der Gesellschaft, nur etwas klarer und mit mehr Glanz: Die Olympischen Spiele in Paris zeigen, wie ein faires Miteinander über kulturelle Unterschiede und nationale Grenzen hinweg möglich ist. Die Fair Play Charta legt dafür den Grundstein, geht aber über die Spiele hinaus. Ich bin davon überzeugt, dass wir viel davon lernen können!

Natürlich gibt es aus guten Gründen auch kritische Stimmen, wenn es um Dopingverdachtsfälle oder mangelnde Nachhaltigkeit geht. Aber sich friedlich zu begegnen und nach klaren Regeln in einen fairen Wettbewerb zu treten, hat in Zeiten von Fake News und Kriegen durchaus Nachahmungspotenzial.

Was also können wir, die wir nicht zufällig zu sportlichen Höchstleistungen antreten, von diesem fairen Spiel lernen? Was sehen wir in diesem olympischen Ausschnitt der Gesellschaft, der auch auf andere Bereiche übertragbar ist? Und was hat das alles mit Empathie und Fehlerkultur zu tun?

Schauen wir uns das Ganze genauer an!


Aus der Geschichte: von Regeln zur Lebensphilosophie

Der internationale Sportverband Panthalon wurde 1951 gegründet und hat die so genannte Fair Play Charta veröffentlicht. Inhaltlich beschreibt sie zehn Grundsätze, zu denen sich eine Person verpflichtet, welche Rolle sie auch im Sport spiele (“und sei es die eines Zuschauers”).

Im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen gibt es ähnliche Prinzipien, die auf den französischen Pädagogen, Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin zurückgehen (drei Mal unnützes Wissen über ihn findest du am Ende des Artikels). Er setzte sich maßgeblich für die Wiederbelebung der Olympischen Spiele ein und gründete 1894 das Internationale Olympische Komitee.

Der so genannte Olympismus, der heute in der Olympischen Charta verankert ist, wird beschrieben als “Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit die Eigenschaften von Körper, Wille und Geist miteinander vereint und überhöht”.

Ziel sei es, [durch] “die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung (…) einen Lebensstil zu schaffen, der auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien aufbaut”.

Word.


Eigenverantwortung: Selbstverpflichtung statt Gesetze

Weder die Fair Play Charta noch die olympischen Grundprinzipien sind Regeln oder gar Gesetze “von oben”, sondern Leitlinien, die auf einer Selbstverpflichtung beruhen.

Die Fair Play Charta bringt es auf den Punkt: “Welche Rolle ich auch immer im Sport spiele, und sei es die eines Zuschauers, ich verpflichte mich…”. Ich (selbst) verpflichte mich (eigenständig, ohne Druck von außen). Für mich ein klarer Appell an unsere (Eigen-)Verantwortung.

Es geht um eine freiwillige Selbstverpflichtung, nicht um eine gesetzliche Verpflichtung. Das dahinter stehende Prinzip wird dem Menschenbild gerecht, in dem Viktor Frankl uns als “verantwortliche und entscheidende Wesen” beschrieben hat. Konkret: Wir werden nicht von außen bestimmt (durch das Universum, die Gesetze, … welche Kräfte auch immer), sondern wir nehmen unsere Verantwortung wahr und treffen unsere Entscheidungen selbst.

Was wäre, wenn wir in Organisationen eine ähnliche Selbstverpflichtung hätten? Eine Selbstverpflichtung, den “Code of Conduct” umzusetzen und danach zu handeln, ohne Drohungen und Sanktionen, sondern weil es in unserer Verantwortung liegt?

Ich bin sicher: Sie würde mehr Klarheit über implizite Annahmen bringen, die längst explizit gemacht werden müssten.


Fair Play, mehr als nur ein Spiel | MEANING + More

Fair Play, mehr als nur ein Spiel | MEANING + More

Fair Play bedeutet Fair Mindset

Fair Play ist in erster Linie eine Frage der inneren Einstellung und nicht des äußeren Verhaltens. Sowohl in der Charta als auch in den Olympischen Prinzipien wird deutlich, dass es im Wesentlichen um eine Haltung geht. Es geht also weniger um Instrumente, Werkzeuge, Strategien nach außen, sondern vielmehr um die innere Einstellung und Haltung. (Anmerkung: in unserem Buch Wege Agiler Führung – mit Sinn haben wir hierfür die Begriffe agile doing und agile being eingeführt)

Es geht darum, sowohl “beim Sieg als auch bei der Niederlage Würde zu bewahren” (Fair Play). Und es geht darum, “den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist” (Prinzipien des Olympismus).

Was wir hier auch sehen: Der Sport wird in den Dienst der Gesellschaft gestellt, nicht umgekehrt. Es geht also um einen Beitrag zu etwas, das größer ist als wir selbst. Logotherapeutisch gesprochen geht es um das Thema der Selbsttranszendenz, indem wir uns auf etwas einlassen, das über uns selbst hinausgeht und viel weiter reicht.


Fair heißt mitfühlend – mit uns selbst und mit anderen

“Ich verpflichte mich… Die Entscheidungen der Schiedsrichter oder Wettkampfrichter zu akzeptieren, da ich weiss, dass sie wie ich das Recht haben, einen Irrtum zu begehen, aber ihr Möglichstes tun, um dies zu vermeiden.” (Fair Play Charta) Allein in diesem Punkt kann ich tiefere Aspekte des Fair Play entdecken.

  • Positive Grundhaltung: Ich erkenne an, dass die andere Person ihr Bestes gibt, um ihre Rolle auszufüllen; ich gehe vom Guten aus und bereite so den Boden für das Wertvolle.
  • Akzeptanz: Die Entscheidung (des Schieds- oder Wettkampfrichters) zu akzeptieren bedeutet auch, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Logotherapeutisch sprechen wir hier von einem schicksalhaften Bereich (im Gegensatz zu einem freien Bereich, den ich aktiv beeinflussen kann).
  • (Selbst-)Mitgefühl: Ich bin mir bewusst, dass Menschen fehlbar sind. Wer hätte das gedacht? Und das schließt alle anderen ebenso ein wie mich selbst. Implizit kommt hier das Bestreben zum Ausdruck, mir selbst und anderen mit Wohlwollen zu begegnen, wie es ein guter Freund tun würde.

Fair meint auch Bewusst-Sein

Das Konzept des Selbstmitgefühls von Kristin Neff passt erstaunlich gut dazu. Die amerikanische Psychologin hat drei Komponenten des Selbstmitgefühls identifiziert:

  1. Freundlichkeit sich selbst gegenüber: Sich selbst gegenüber freundlich und fürsorglich sein. Sich selbst wie einen guten Freund behandeln. Mein Verständnis ist: Wir sehen, dass die innere Haltung des Respekts bei uns selbst beginnt – und wir können sie dann auf andere übertragen. Der wohlwollende Umgang mit uns selbst spiegelt eine positive Grundhaltung wider, die sich dann auch auf andere überträgt.
  2. Achtsamkeit: Gedanken und Gefühlen mit Achtsamkeit begegnen, d.h. die eigene Aufmerksamkeit auf das richten, was ist, und es anerkennen. Also nicht abzuwerten oder zu verurteilen, nicht zu dramatisieren, aber auch nicht zu ignorieren. Stichwort Akzeptanz, siehe oben.
  3. Verbundenheit mit allen Menschen: Anerkennen, dass Leid oder Schmerz eine Erfahrung ist, die alle Menschen teilen. In schwierigen Situationen daran denken, dass man mit dieser Erfahrung nicht allein ist. Ich bin mir sicher: Gerade bei Wettkämpfen wie den Olympischen Spielen geben alle ihr Bestes und jeder hat schon einmal eine schmerzhafte Erfahrung gemacht oder eine Niederlage erlitten (wenn nicht direkt im Sport, dann mindestens im Leben). Diese Erfahrung verbindet uns.

🎊 Das Leben? Ein Fest!

“Ich verpflichte mich… Unabhängig vom Einsatz und von der Härte des Wettkampfes aus jeder Sportveranstaltung einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen.” (Fair Play Charta)

Im Duden ist “Fest” definiert als “[größere] gesellschaftliche Veranstaltung [in glanzvollem Rahmen]”. Umgangssprachlich verstehen wir darunter oft auch Vergnügen oder Freude. Mein persönliches Verständnis ist das Zusammenkommen von Menschen, um etwas Besonderes zu feiern.

Wie auch immer: Wie wäre es, wenn wir diesen Glanz, diese Freude, diese Feierlichkeit immer wieder zum Maßstab unseres Alltags machen würden?

Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder von uns geboren wird, ist äußerst gering. Das sollte Grund genug sein, das Leben zu feiern, wie schwer es auch sein mag. Natürlich erscheint es unangemessen, kurz nach einer Kündigung oder dem Bekanntwerden einer schweren Krankheit in Feierlaune zu verfallen, logisch.

Aber es scheint mir eine gute Idee zu sein, gerade im Alltag ab und zu die Freude und das Vergnügen, mit anderen zusammen zu sein, bewusst zu feiern. Oder sich wieder einmal bewusst zu machen, dass es nicht selbstverständlich ist, in Frieden zu leben. Oder die schier unwahrscheinliche Tatsache zu feiern, dass gerade wir am Leben sind.

Wie würde sich unser Grundgefühl verändern, wenn wir dem Alltag mit der Haltung begegnen würden, aus jedem Erlebnis einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen? Selbst wenn das nur in einem Teil der Fälle gelingt, wäre das nicht schon ein Gewinn für uns und unsere Mitmenschen, die mit uns feiern könnten?


🎯 Mehr als nur ein Spiel!

Die Fair Play Charta zeigt uns, dass Fair Play nicht nur im Sport, sondern auch im täglichen Leben von zentraler Bedeutung ist. Sie fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen und stets fair zu handeln.

Dabei geht es um mehr als nur Regeln – es geht um unsere innere Einstellung und Haltung. Wenn wir beginnen, diese Prinzipien in unserem Alltag umzusetzen, können wir eine positive Veränderung in unserer Gesellschaft bewirken.

Stellen wir uns vor, wir würden jeden Augenblick unseres Lebens zu einem Fest machen, mit Respekt und Mitgefühl für uns selbst und für andere. Das ist eine Herausforderung, aber die Belohnung ein harmonischeres und erfüllteres Leben – ist es wert.

Lassen wir uns von der Fair Play Charta inspirieren, nicht nur für den Sport, sondern als Leitlinie für ein friedlicheres und respektvolleres Miteinander!


P.S. Unnützes Wissen zu Coubertin – das nachdenklich stimmt

Hier noch drei interessante (aka überraschende, teils schockierende) Fakten rund um Coubertin, über die ich in meiner Recherche gestoßen bin.

  • Athen statt Paris: Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit fanden 1896 in Athen statt – gegen Coubertins Willen. Er wollte die ersten Spiele in seine Heimatstadt Paris holen. Das IOC entschied sich jedoch für Athen, in Anlehnung an die antiken Spiele. Coubertin hätte wohl seine wahre Freude an den diesjährigen Spielen in Paris gehabt.
  • Kunst war olympisch! Von 1912 bis 1948 gab es auch Kunstwettbewerbe bei den Olympischen Spielen. Diese wurden in den Bereichen Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei ausgetragen. Alle Kunstwerke mussten dabei einen Bezug zum Sport aufweisen. Coubertin selbst wurde 1912 unter einem Pseudonym Olympiasieger der Disziplin Literatur. Was wäre, wenn Kunst wieder olympisch würde?
  • Männer als bessere Athleten? Nicht! Nach Coubertins olympischem Idealbild sollten nur erwachsene, männliche Einzelkämpfer teilnehmen, ähnlich dem antiken Vorbild. Frauen von der Teilnahme an den Spielen auszuschließen, konnte er auf Dauer nicht durchsetzen. Ein Glück!