Ikigai und Logotherapie – Auf der Suche nach Verbindungen

Stell‘ dir zwei Lebensgeschichten zur gleichen Zeit vor, eine in Österreich, die andere in Japan. Beide Biographien sind geprägt von Schicksalsschlägen, von tiefem Leid, vom Nachdenken über Traurigkeit, Hoffnung und Trauer.

Zwei Menschen, die darüber nachdenken, was das Leben lebenswert macht, was dem Leben einen Sinn gibt. Der eine ebnete aus eigener Erfahrung den Weg zur sinnzentrierten Psychotherapie (Viktor Frankl), die andere entwickelte und lebte mit ganzem Herzen das Konzept des Ikigai (Mieko Kamiya). Aber ihre Wege haben sich nie gekreuzt. Die Frage stellt sich…

Was wäre, wenn Viktor Frankl und Mieko Kamiya sich begegnet wären?

Sie hätten vielleicht darüber nachgedacht, wie man angesichts politischer Instabilität, zunehmender psychischer Probleme in der Gesellschaft und des Sinnverlusts vieler Menschen einen Sinn finden kann. Vielleicht hätten sie sich genüsslich zu einer Wiener Melange oder gar einer traditionellen Teezeremonie niedergelassen (um hier alle Klischees zu bedienen).

Als Begründer der Logotherapie (Viktor Frankl) und der Ikigai-Psychologie (Mieko Kamiya) hätten sie sich vielleicht auch über ihre Quellen dessen ausgetauscht, was ihr Leben trotz oder gerade wegen allen Leids lebenswert macht. Vielleicht hätten sie auch über ihre Ansätze, dem Leben einen Sinn zu geben, und über ihre Beziehung zueinander gesprochen.

All das hätte passieren können, aber wir können es nicht wissen. Wir können aber Zusammenhänge erforschen, die zu ihren Lebzeiten noch nicht entdeckt waren.


Über das Leiden – Eine Lebenszeit, viele Erfahrungen

Viktor Frankl und Mieko Kamiya stellten sich vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen großen Leids Fragen wie…

  • Was gibt Menschen Hoffnung im Angesicht von Leiden?
  • Was brauchen Menschen, um sich weniger als Opfer und mehr als aktive Gestalter ihres Lebens zu fühlen?
  • Wie können wir Zeiten von tiefer Trauer und Kummer überwinden?

Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten. Nichts anderes kommt uns Menschen zu! – Viktor Frankl

Beide haben viel über das Leiden nachgedacht, geschrieben und gesprochen. Es ist erstaunlich, wie sehr ihre Einstellung zum Leiden, ihr Umgang damit und ihre Integration des Leidens in das Leben ihrer Einstellung zum Leben ähneln.

Haltung: Viktor Frankl und Mieko Kamiya sahen das Leiden als Teil des Lebens – und trotzdem (oder gerade deshalb) kann das Leben besonders lebenswert sein.

Anwendung: Beide waren herausgefordert, ihre Ansätze auf ihr eigenes Leben „anzuwenden“, als sie schweres Leid erfuhren.

Integration: Beide haben in ihrem eigenen Leben schweres Leid erfahren und viel darüber geschrieben; ihnen war klar, dass es mehr braucht als nur Medikamente.


Viktor Frankl (Logotherapie) und Mieko Kamiya (Ikigai) | MEANING + More

Viktor Frankl (Begründer Logotherapie) und Mieko Kamiya (Begründerin Ikigai)

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Mieko Kamiya – Hingabe an das Schreiben nach Medizin, Ehe und Mutterschaft

Mieko Kamiya, die Begründerin der Ikigai-Psychologie, wurde 1914 in Okayama, Japan, geboren. Durch den Umzug ihrer Familie in die Schweiz kam sie in ihrer Kindheit mit verschiedenen Kulturen in Kontakt und sprach später fliessend Deutsch und Englisch. Nachdem sie in ihren frühen Zwanzigern die Liebe ihres Lebens verloren hatte, suchte sie lange nach einem Sinn in ihrem Leben. Sie erhielt eine umfassende Ausbildung in klassischer Literatur und Sprachen (u.a. Italienisch, Deutsch, Französisch und Griechisch), darunter auch Marcus Aurelius, den sie später ins Japanische übersetzte.

Schon als Studentin besuchte sie zufällig ein Sanatorium und war tief beeindruckt von den Leprakranken dort. Sie spürte, dass sie eines Tages für sie arbeiten würde, aber das sollte noch einige Jahre dauern. Später begann sie ein Medizinstudium in den USA, kehrte aber aus Angst vor dem drohenden Krieg nach Japan zurück, wo sie Ärztin wurde. Schon früh behandelte sie Leprakranke und begann, sich für Psychiatrie zu interessieren.

Laut Wörterbuch bedeutet ikigai „Kraft, die man braucht, um in dieser Welt zu leben, Glück, Lebendigkeit, Nützlichkeit, Wirksamkeit“. Wenn wir versuchen, es ins Englische, Deutsche, Französische usw. zu übersetzen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, es anders als „lebenswert“ oder „Wert oder Sinn des Lebens“ zu definieren. – Mieko Kamiya

Erst nachdem sie geheiratet und zwei Kinder geboren hatte, widmete sie ihr Leben dem Schreiben, ihrem persönlichen Ikigai. Damit erfüllte sich die Vorhersage eines engen Freundes: „Ich sage dir deine Zukunft voraus. Du wirst Schriftstellerin werden, nachdem du die drei M [Medizin, Marriage (Ehe) und Mutterschaft] absolviert hast“.

Ihr bekanntestes Buch ist „Über den Sinn des Lebens“ (japanisch: Ikigai Ni Tsuite), das nie übersetzt wurde, während Auszüge aus ihren Tagebüchern in ihrer Biografie „Eine Frau mit Dämonen“ zu finden sind. Mieko Kamiya starb 1979 im Alter von 65 Jahren an einer Herzerkrankung.


Die Bedeutung von Sinn – Ikigai-kan

Das Leben der beiden hat sich zeitlich und räumlich stark überlappt. Dennoch gibt es keinen Bericht darüber, dass sie sich jemals getroffen hätten.

Wir wissen nur, dass Kamiya Frankl zitierte, als sie über Ikigai-kan, das Gefühl von Ikigai, schrieb.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort „Ikigai“ zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in „Dieses Kind ist mein Ikigai“, oder es kann sich auf den geistigen Zustand des Gefühls des Ikigai beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den „Sinn des Sinns“ nennt. Ich werde ihn „Ikigai-Kan“ nennen, um ihn von dem ersteren „Ikigai“ selbst zu unterscheiden“, sagte Mieko Kamiya.


Viktor Frankl – Perspektiven aus dem tiefsten Tal und von den höchsten Bergen

Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, wurde 1905 in Wien geboren. Der Neurologe und Psychiater begann sich im Alter von 15 Jahren mit den Themen Leere und Sinnlosigkeit zu beschäftigen, als er mit der hohen Selbstmordrate von Jugendlichen in seiner Gemeinde konfrontiert wurde.

Er hatte bereits die Grundlagen dessen geschrieben, was später als Logotherapie und Existenzanalyse bekannt wurde, bevor er während des Zweiten Weltkriegs in vier Konzentrationslager kam. Natürlich konnte er nichts mitnehmen und verlor alle seine Manuskripte. Schlimmer noch, er verlor seine Frau, seine Eltern und enge Freunde im Krieg.

Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, muss auch Leiden einen Sinn haben. Es kommt nicht darauf an, was man leidet, sondern wie man es auf sich nimmt. – Viktor Frankl

Es heißt, er habe nur neun Tage gebraucht, um alle grundlegenden Konzepte niederzuschreiben. Sein Buch „Die Suche des Menschen nach dem Sinn“ wurde zu einem der meistverkauften Bücher aller Zeiten.

Weniger bekannt ist, dass er trotz seiner Höhenangst ein großer Bergsteiger war. Nachdem er seine erste Frau verloren hatte, heiratete er erneut und nahm spät in seinem Leben Flugstunden. Im Alter von 68 Jahren erwarb Frankl den Alleinflugschein. Nachdem er die Logotherapie und Existenzanalyse weiterentwickelt hatte, arbeitete er mit vielen Patienten und gab seine Erfahrungen in der ganzen Welt weiter, nicht zuletzt in den USA und in Japan. Viktor Frankl starb 1997 in Wien.


Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie

  1. Sinn und Ikigai sind nicht das eine große Ding im Leben, vielmehr beschreiben sie beide Dinge, Menschen, Momente, die das Leben lebenswert machen.

Eine Person, die am ehesten ein Gefühl von Ikigai verspürt, ist von ihrer Lebensnotwendigkeit überzeugt, ist sich ihres Ziels der „Selbsterhaltung“ klar bewusst und setzt sich voll und ganz für dieses Ziel ein. – Mieko Kamiya, “Ikigai ni Tsuite”

Weil beide Ansätze – Ikigai und Logotherapie – davon ausgehen, dass das, wofür es sich zu leben lohnt, im Alltag, im Kleinen (und manchmal auch im Großen) zu finden ist, sind wir handlungs- und gestaltungsfähig. Auf diese Weise können wir Veränderung, Wachstum und Reaktionsfähigkeit fördern.

  1. Sinn und Ikigai sind beide höchst individuell und an die jeweilige Situation gebunden; es gibt nicht die eine Regel, was für uns sinnvoll ist.

Jeder Tag, jede Stunde wartet mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn – Viktor Frankl

Da Ikigai und Sinn individuell und situationsabhängig sind, können wir hoffnungsvoll sein. Wie reich ist unser Leben, wenn jeder Moment uns eine neue Gelegenheit bietet, zu entscheiden, wer wir in der Zukunft sein wollen?

  1. Es gibt viele Quellen für Sinn und Ikigai in unserem Leben, nicht nur eine.

In der Logotherapie und Existenzanalyse sind Werte Möglichkeiten der Sinnverwirklichung. In der Logotherapie werden drei Kategorien von Werten unterschieden: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. In Anlehnung an Mieko Kamiyas Konzept des Ikigai gibt es sieben Dimensionen: Lebenszufriedenheit, Wachstum und Veränderung, gute Zukunft, Resonanz, Freiheit, Selbstverwirklichung, Sinn und Werte.

Besonders interessant ist, dass beide Lebenskonzepte Freiheit als Grundlage für den Sinn des Lebens sehen. Auf der einen Seite bezieht sich dies auf die individuellen Entscheidungen: “[Ein Mensch, der eine persönliche Lebensaufgabe hat, die er aktiv verfolgt, lebt Ikigai auf höchstem Niveau.” – Mieko Kamiya

Andererseits ist Freiheit immer mit Verantwortung verbunden. Das sind zwei Seiten derselben Medaille – das ist der Kern dessen, was uns zu Menschen macht. Deshalb gibt uns jeder Augenblick (individuell) eine neue Chance zu entscheiden, wer wir einmal sein wollen.


Ikigai & Logotherapie – Eine vorläufige Zusammenfassung

Auch wenn es viele Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie gibt, die noch erforscht werden müssen, können wir heute drei Punkte miteinander verbinden.

  • Erstens sahen Viktor Frankl und Mieko Kamiya das Leiden einfach als Teil des Lebens (und nicht als katastrophale Ausnahme vom Alltag). Als Menschen können wir jedoch entdecken, was für uns lebenswert ist.
  • Zweitens: Ikigai-kan und Sinn finden wir im Tun und Sein (nicht im Denken und Reden darüber) – und es ist immer einzigartig und besonders.
  • Drittens: Es ist unsere Freiheit, in jedem Moment eine Entscheidung zu treffen. Wir können unsere Umwelt nicht immer ändern oder beeinflussen, aber wir haben immer die Freiheit, unsere Einstellung zu ihr zu ändern.
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