Summer Sadness – Und was mir noch nie dabei geholfen hat

Ein Paradox, mindestens drei Erklärungen: von Japan bis Literatur

Es passiert mir jedes Mal. Mit Ansage. Ohne Halt. Spätestens am Tag vor der Abreise.

Manchmal mit einem grumpy mood, manchmal mit ein paar Tränen. Immer mit einem schweren Herzen: die Summer Sadness. So auch dieses Mal, auf dem Rückweg von Skandinavien, nach zwei Wochen Urlaub mit Midsommar-Magie.

Immer, wenn sich eine solche Auszeit dem Ende nähert, werde ich melancholisch. Ich bin traurig, dass die besondere Zeit vorbei ist.

Rationale Geister sagen, man solle sich doch lieber über das freuen, was man erlebt hat, anstatt ihm hinterherzutrauern. Stimmt vielleicht, klappt aber nur bedingt. Dieser Rat ist kognitiv nachvollziehbar, hat mir aber noch nie geholfen.

Dass ich nicht die einzige bin, der es so geht, wird an der Vielfalt der Begrifflichkeiten deutlich, die diese sonderbare Art der Traurigkeit beschreiben.

  • In Japan hat das Phänomen dieser Vergänglichkeit einen eigenen Begriff: mono no aware.
  • Der Autor Benedict Wells hat eine neue Wortkreation dafür geschaffen: Euphancholie.
  • Und die Amerikanerin Susan Cain hat dem Thema gar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet.

Enjoy the sadness!


🔎 Aus der Praxis: japanische Wehmut

Was bedeutet mono no aware?

Mono no aware ist eine japanische Redewendung für das Bewusstsein der Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit der Dinge.

Sie beschreibt einerseits eine vorübergehende sanfte Traurigkeit (oder Wehmut). Andererseits bezeichnet sie auch eine längere, tiefere sanfte Traurigkeit darüber, dass dieser Zustand die Realität des Lebens ist.

Es geht um die Vergänglichkeit der Schönheit, das leise, beschwingte, bittersüße Gefühl, Zeuge des schillernden Zirkus des Lebens gewesen zu sein – in dem Wissen, dass nichts davon von Dauer sein kann.

Die Ästhetik [von mono no aware] liegt in der leisen Freude, die unweigerlich mit der Traurigkeit verbunden ist: die Freude, dass wir die Schönheit eines Menschen oder einer Sache erleben durften, sei sie auch noch so kurzlebig gewesen. – Yasemin Besir, Japan Digest

Wann und wie zeigt sich mono no aware?

Ein besonders prägnantes Beispiel aus Japan ist die Zeit der Kirschblüte: wunderschön, in voller Pracht, Ausdruck der lebendigen Natur. Und gleichzeitig so vergänglich, eben weil die Natur in Kreisläufen existiert und bald alles verblüht sein wird.

Bei unserem Aufenthalt in Schweden war es das besondere Licht und die magische Atmosphäre der langen Tage rund um Midsommar. Das Erlebnis der Feierlichkeiten in “unserem” Dorf haben nur noch einen drauf – wohlwissend, dass jedes Lied und jeder Tanz einmalig in diesem Moment sein würden.


💬 On words

In dem bewegenden Coming-of-Age-Roman Hard Land wird das Gefühl zwischen Berührung, Hingabe einerseits und Wehmut und Trauer andererseits mit einer neuen Wortkreation beschrieben:

So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird. Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt. – Benedict Wells, Hard Land

Der Autor Benedict Wells erklärt seine Wortschöpfung so (und ja, es gibt tatsächlich eine Baseball-Cap mit der Aufschrift Euphancolie..):

Das Wort ist eine Mischung aus ›Euphorie‹ und ›Melancholie‹. Einerseits ist man fast zerrissen vor Glück, aber auch wehmütig, weil der Moment bald vorbeigehen wird; man vermisst ihn schon jetzt.

Generell habe ich es als Jugendlicher oft selbst erlebt, dass man selbst nach schlimmsten Erfahrungen plötzlich in ausgelassenes Gelächter ausbrechen konnte – und umgekehrt. Dieses schnelle, manchmal völlig unlogische Umschlagen der Emotionen hat mich immer fasziniert, alles geschah gleichzeitig. Oder um es mit einem 80s-Song zu sagen: Dancing With Tears In My Eyes.

Wer richtig eintauchen will, dem sei die gleichnamige Playlist Euphancholie von Benedict Wells empfohlen.


 


🔎 Aus der Forschung: Bittersweetness

Die amerikanische Autorin Susan Cain hat dem paradoxen Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet – How Sorrow And Longing Make Us Whole. Sie schreibt dazu:

If you’ve ever wondered why you like sad music …

If you find comfort or inspiration in a rainy day …

If you react intensely to music, art, nature, and beauty …

Then you probably identify with the bittersweet state of mind.

Wozu dient Bittersweetness überhaupt?

Susan Cain beschreibt die Frage nach dem bittersüßen erleben (jeweils eigene Übersetzung aus dem Englischen):

Philosophen nennen dies das „Paradoxon der Tragödie“ und rätseln seit Jahrhunderten darüber. Warum freuen wir uns manchmal über den Kummer, während wir den Rest der Zeit alles tun, um ihn zu vermeiden? Jetzt beschäftigen sich auch Psychologen und Neurowissenschaftler mit dieser Frage und haben verschiedene Theorien aufgestellt:

Eine Mondscheinsonate kann für Menschen, die einen Verlust oder eine Depression erleben, therapeutisch sein; sie kann uns helfen, negative Gefühle zu akzeptieren, anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen; sie kann uns zeigen, dass wir mit unseren Sorgen nicht allein sind.

Wir mögen zum Beispiel keine Listen mit traurigen Wörtern oder Diashows mit traurigen Gesichtern (dies haben Forscher tatsächlich getestet). Was wir lieben, sind elegische Gedichte, nebelumhüllte Küstenstädte, Türme, die durch die Wolken ragen. Mit anderen Worten: Wir mögen Kunstformen, die unsere Sehnsucht nach Vereinigung und nach einer perfekteren und schöneren Welt ausdrücken.

Traurige Musik und melancholische Poesie – jetzt echt?

Kürzlich haben die Neurowissenschaftler Matthew Sachs und Antonio Damasio zusammen mit der Psychologin Assal Habibi die gesamte Forschungsliteratur über traurige Musik ausgewertet. In ihrem Artikel The Pleasures of Sad Music haben sie festgestellt, dass sehnsuchtsvolle Melodien unserem Körper helfen, eine Homöostase zu erreichen – einen Zustand, in dem unsere Emotionen und unsere Physiologie innerhalb eines optimalen Bereichs funktionieren.

Sie liefern Antworten auf die Frage, wie es sein kann, dass das menschliche Überleben von der Vermeidung (!) schmerzhafter Erfahrungen abhängt, der seelische Schmerz aber oft ausdrücklich in der Musik gesucht wird. Es scheint mindestens drei Erklärungen zu geben.

Traurigkeit, die durch Musik hervorgerufen wird, wird als angenehm empfunden:

  1. wenn sie als nicht bedrohlich wahrgenommen wird;
  2. wenn sie ästhetisch ansprechend ist; und
  3. wenn sie psychologische Vorteile wie Stimmungsregulierung und empathische Gefühle hervorruft, z. B. durch die Erinnerung an und das Nachdenken über vergangene Ereignisse.

Vielleicht ist das dein Call, doch mal in die euphancholische Playlist von Benedict Wells einzutauchen…?

In wie fern hat das Bittersüße auch etwas Wertvolles?

Schließlich erinnert uns (mich zumindest), dass dieser euphancholische Zustand auch sein Gutes hat:

Erinnerst du dich an die sprachlichen Ursprünge des Wortes Sehnsucht: Der Ort, an dem du leidest, ist der Ort, an dem du dich sorgst. Du leidest, weil du dich sorgst. Deshalb ist die beste Reaktion auf Schmerz, tiefer in die Sorge einzutauchen.

Es ist oft dort, wo wir den größten Schmerz empfinden, dass unsere Werte besonders sichtbar werden. Das, was uns viel bedeutet, wird verletzt.

In diesem Sinne: never stop yearning, never stop caring.

Der Elefant im Raum: er beginnt mit E und wird immer größer

Größer könnte er fast nicht sein, der Elefant im Raum. Einsamkeit is everywhere.

Es ist an der Zeit für uns alle, hinzuschauen. Auch die Bundesregierung wacht langsam auf, wenn es um die institutionelle Erforschung und Bekämpfung von Einsamkeit geht. Das ist auch gut so, denn Einsamkeit betrifft nicht nur einzelne wenige, sondern kann massive gesellschaftliche Auswirkungen haben. Stichwörter: Gesundheitsprävention, Gender (Loneliness) Gap, Stabilisierung der Demokratie.

Letzte Woche erschien das erste Einsamkeitsbarometer der Bundesregierung. Der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vom Kompetenznetz Einsamkeit erarbeitete Bericht beschreibt die Entwicklung von Einsamkeit in unserer Gesellschaft.

Nicht nur hier wird klar: In verschiedenen Gruppen stellt sich Einsamkeit unterschiedlich dar und hat viele Ursachen. Laut Aussage des Psychoanalytikers und Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch können die Ursachen von Einsamkeit individuelle, gesellschaftliche und sogar globale Faktoren beinhalten. Ein Beispiel: verheiratete Menschen mit höherer Bildung und gutem Einkommen fühlen sich seltener einsam als alleinstehende Menschen mit wenig Bildung und wenig Einkommen.

Trotz der riesigen Dimension des Themas habe ich die wichtigsten Insights des Einsamkeitsbarometers zusammengefasst, durch wissenschaftliche Erkenntnisse angereichert und mit logotherapeutischen Impulsen verfeinert.

Einsamkeit ist zu groß, als dass wir wegschauen und -hören könnten.

Let’s read & lead!

 

IN A NUTSHELL

1. Einsamkeit ist ein weit verbreitetes und ernsthaftes gesellschaftliches Problem

Einsamkeit betrifft Menschen aller Altersgruppen und hat erhebliche gesundheitliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Besonders gefährdete Gruppen sind ältere Menschen, junge Erwachsene, Arbeitslose, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist wichtig, das Thema nicht zu ignorieren, sondern aktiv Maßnahmen zur Prävention und Unterstützung zu ergreifen.

2. Einsamkeit ist eine subjektive Erfahrung – der auch gesellschaftliche Ursachen zugrunde liegen

Einsamkeit ist nicht dasselbe wie allein zu sein; sie ist ein subjektives Gefühl des Mangels an ausreichenden sozialen Beziehungen. Diese Diskrepanz zwischen den gewünschten und tatsächlichen sozialen Kontakten kann sich sowohl auf die Quantität als auch die Qualität der Beziehungen beziehen. Verstehen wir Einsamkeit als subjektive Wahrnehmung, können wir besser nachvollziehen, warum Menschen sich einsam fühlen, selbst wenn sie nicht allein sind. Die Ursachen für dieses Gefühl sind jedoch vielfältig und können neben individuellen, auch gesellschaftliche und gar globale Faktoren beinhalten.

3. Soziale Bindungen und gesellschaftliche Teilhabe sind zentrale Schutzfaktoren

Menschen mit starken sozialen Netzwerken und guter Bildung sind weniger von Einsamkeit betroffen. Während der Pandemie haben sich soziale Bindungen als besonders wertvoll erwiesen. Es ist entscheidend, soziale Kontakte zu pflegen und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, um Einsamkeit entgegenzuwirken. Ein offenes Ohr und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit für einen Menschen können ein erster Schritt sein.

🔎 Aus der Praxis: Einsamkeit in Deutschland über zwanzig Jahre (1992 bis 2021)

Was genau ist das Einsamkeitsbarometer 2024?

Das Einsamkeitsbarometer ist eine Untersuchung der Langzeitentwicklung der Einsamkeitsbelastungen innerhalb der Bevölkerung (18 Jahre und älter) in Deutschland auf Basis repräsentativer Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zwischen 1992 und 2021. Laut eigener Aussage soll der Einsamkeitsbarometer 2024:

  • “repräsentative Aussagen zur Entwicklung der Prävalenz von Einsamkeit in der erwachsenen deutschen Bevölkerung über die Zeit ermöglichen,
  • vulnerable Gruppen und Risikofaktoren identifizieren,
  • Veränderungen und Trends in den Einsamkeitsbelastungen unterschiedlicher Gruppen aufzeigen sowie
  • eine internationale Vergleichbarkeit der Daten im Zeitverlauf gewährleisten” (S. 9).

 

Was zeigen die Ergebnisse?

Der gesamte Einsamkeitsbarometer umfasst 80 Seiten (der statistische Anhang ist nicht mitgerechnet), ein paar der zentralen Ergebnisse sind folgende:

  1. Langzeitentwicklung von Einsamkeitsbelastungen: Nach einem starken Anstieg der Einsamkeit im ersten Pandemiejahr 2020 zeichnet sich für 2021 eine Rückkehr auf das Niveau vor der Pandemie ab. Dennoch bleiben die Einsamkeitsraten höher als im Jahr 2017. Besonders betroffen sind ältere Menschen über 75 Jahre und junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren. Frauen sind generell stärker von Einsamkeit betroffen als Männer, und dieser Unterschied hat sich durch die Pandemie noch verstärkt.
  2. Lebenslagen von Menschen mit erhöhter Einsamkeit: Einsamkeit schadet der physischen und psychischen Gesundheit. Besonders betroffen sind Arbeitslose, wobei sich die Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen während der Pandemie deutlich verringert haben. Auch Alleinerziehende, pflegende Angehörige und Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung sind besonders belastet.
  3. Resilienzquellen gegen Einsamkeit: Teilhabe und soziale Bindungen: es gibt auch gute Nachrichten: Die Qualität der sozialen Beziehungen und die gesellschaftliche Teilhabe sind in Deutschland stabil und hoch. Besuche bei Familie und Freunden blieben auch während der Pandemie häufig. Auch die Bildung spielt eine wichtige Rolle: Höher gebildete Menschen sind weniger von Einsamkeit betroffen.
  4. Regionale und raumbezogene Aspekte von Einsamkeit: Einsamkeit unterscheidet sich kaum zwischen West- und Ostdeutschland oder zwischen Stadt- und Landbewohnern.
  5. Einsamkeit und Demokratie: Menschen, die sich einsam fühlen, haben weniger Vertrauen in politische Institutionen und interessieren sich weniger für Politik. Sie neigen auch eher zu Verschwörungstheorien und beteiligen sich weniger an Wahlen.

 

Und nun, was tun? Handlungsempfehlungen der Bundesregierung

Im Einsamkeitsbarometer wird Einsamkeit als “ressortübergreifende Herausforderung” betrachtet. Erste Handlungsimplikationen gehen in folgende Richtung (kleine Auswahl):

  • Berücksichtigung aller Altersgruppen: Einsamkeit betrifft Menschen jeden Alters. Maßnahmen sollten daher alle Altersgruppen berücksichtigen.
  • Genderpolitik: Einsamkeit ist auch eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Frauen sind häufiger betroffen, daher sind geschlechtersensible Maßnahmen notwendig.
  • Gesundheitsvorsorge: Soziale Bindungen sind wichtig für die Gesundheit. Einsamkeitsprävention sollte Teil der Gesundheitsvorsorge sein.
  • Armut und Arbeitsmarkt: Einsamkeit steht in engem Zusammenhang mit Armut. Maßnahmen gegen Einsamkeit sollten daher auch in die Arbeitsmarkt- und Armutspolitik integriert werden.
  • Care-Arbeit: Menschen, die Care-Arbeit leisten (z.B. Alleinerziehende, Pflegende), sind besonders betroffen. Hier ist eine Vernetzung von Familien-, Gleichstellungs- und Einsamkeitspolitik notwendig.
  • Bildung: Bildung ist ein wichtiger Schutzfaktor vor Einsamkeit. Aufklärungsarbeit sollte insbesondere auch Menschen mit niedrigem Bildungsniveau erreichen.

 

 

🔎 Aus der Forschung: Facetten und Folgen von Einsamkeit

Was ist Einsamkeit überhaupt – und was nicht?

In dem Einsamkeitsbarometer wird Einsamkeit in Anlehnung an Perlman & Peplau (1981) definiert als „unangenehme Erfahrung, bei der die eigenen sozialen Beziehungen entweder quantitativ oder qualitativ als unzureichend empfunden werden“ (S. 13).

Und weiter: “Es handelt sich hierbei also um eine subjektive Wahrnehmung der betroffenen Personen. Einsamkeit entsteht in der Diskrepanz zwischen den Erwartungen an soziale Beziehungen und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen. Darüber hinaus kann sich der empfundene Mangel sowohl auf die Anzahl an sozialen Kontakten (Quantität) als auch auf deren Qualität beziehen“ (S. 13).

Wichtig ist der Hinweis von Rauchfleisch in seinem Buch Einsamkeit – Die Herausforderung unserer Zeit: „Einsamkeit ist zwar ein Gefühl, das wir individuell erleben und erleiden. Ihm liegen jedoch neben individuellen auch gesellschaftliche und sogar globale Ursachen zugrunde“ (S. 8).

Einsamkeit ist…

  • nicht: soziale Isolation. Einsamkeit abzugrenzen von sozialer Isolation: “Mit sozialer Isolation wird der objektive Zustand des Alleinseins beschrieben, während, wie oben dargestellt, Einsamkeit das subjektive Erleben betrifft. Die Erfassung von Einsamkeit basiert meist auf Selbstauskünften der betreffenden Personen, während die soziale Isolation als eher objektives Konstrukt leichter messbar ist” (Rauchfleisch, 2024, S. 11).
  • nicht: allein-Sein. „Ebenfalls ist zu unterscheiden zwischen „Allein-Sein“ und „Sicheinsam-Fühlen“. Im Alltagssprachgebrauch werden diese beiden Begriffe zwar häufig synonym verwendet, sie bezeichnen jedoch nicht dasselbe. Während Einsamkeit das beschriebene subjektive Gefühl betrifft, ist „Allein-Sein“ ein objektiv sichtbarer Zustand. Beides tritt zwar häufig zusammen auf, ist aber nicht notwendigerweise miteinander verknüpft“ (Rauchfleisch, 2024, S. 12).

 

Facetten von Einsamkeit

Einsamkeit kann individuelle, gesellschaftliche und globale Ursachen haben. Zudem ist es wertvoll, die unterschiedlichen Facette von Einsamkeit zu differenzieren. Luhmann & Bücker (2019) beschreiben drei Ausprägungen: emotionale, soziale und kollektive Einsamkeit (S. 5):

  • Emotionale Einsamkeit (auch: intime Einsamkeit), beschreibt einen Mangel einer sehr engen, intimen Beziehung, wie sie zum Beispiel in Paarbeziehungen zu finden ist.
  • Soziale Einsamkeit, auch relationale Einsamkeit genannt, bezieht sich auf denMangel von Freundschaften und weiteren persönlichen Beziehungen.
  • Kollektive Einsamkeit umfasst ein Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder zur Gesellschaft.

 

 

Folgen von Einsamkeit

Lange Zeit ging man davon aus, dass Einsamkeitsgefühle psychisch belastend sind. Dass aber auch körperliche Erkrankungen die Folge sein können, wurde nicht beachtet. Bahnbrechend war in dieser Hinsicht eine Veröffentlichung von House et al. (1988), die in der renommierten Zeitschrift Science über die Ergebnisse ihrer Studie Social Relationships and Health berichteten. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass länger andauernde Einsamkeit zu einem signifikanten Anstieg von Morbidität und Mortalität führt.

Kurz gesagt: Wer einsam ist, wird häufiger krank und stirbt deutlich früher.

Psychische und körperliche Erkrankungen gehen hierbei oft Hand in Hand. Die folgende Auswahl von Aspekten in Anlehnung an Rauchfleisch ist ein Versuch, die Folgen besser greifen zu können.

  • Psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Suchtentwicklung: Gerade bei Depressionen besteht häufig die Problematik, dass die Depression nicht nur eine Folge der erlebten Einsamkeit ist, sondern ihrerseits oft zu einem weiteren Rückzug aus sozialen Kontakten führt. Ähnliches gilt in vielen Fällen für Suchtkranke.
  • Bedrückende Empfindungen wie Scham- und Schuldgefühle, Leeregefühle, Angst vor Nähe: Gerade Scham gilt als eines der unangenehmsten Gefühle, das durch die Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit gekennzeichnet ist. “Während es bei der Scham um Selbstablehnung und eine zentrale Infragestellung der eigenen Person geht, entstehen Schuldgefühle, wenn eine Person die von außen oder von sich selbst gesetzten Ziele und Erwartungen nicht erfüllt” (S. 109). Auf den Punkt gebracht: Schuld bedeutet “Ich habe etwas falsch gemacht”, während Scham bedeutet “Ich bin selbst falsch”.
  • Verheimlichungsstress (“minority stress”): In Anlehnung Mayer (2003) wird diese Art von Stress von Menschen erlebt, die sich schämen, einer Gruppe anzugehören, die von ihrem Umfeld abgelehnt wird, wie z.B. von Armut betroffene oder homosexuelle Menschen. Sie versuchen daher, Merkmale, die darauf hinweisen könnten, zu verbergen.
  • Gesellschaftliche Auswirkungen wie die forcierte Suche nach Kontakten: Auch wenn es von außen als vermeintlich gute Strategie wahrgenommen wird, kann in einem solchen Fall von Hyperaktivität nicht von einem konstruktiven Versuch gesprochen werden, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen. Vielmehr handelt es sich um einen erzwungenen Weg, um jeden Preis (irgendeinen) Kontakt zu anderen Menschen herzustellen.
  • Körperliche Erkrankungen: In einem Bericht vom Institut der Deutschen Wirtschaft (2019) werden die gesundheitlichen Folgen basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen klar benannt: “Neben den direkten negativen Gefühlen und dem persönlichen Leid für die Betroffenen, erhöht sich durch Einsamkeit das Risiko gesundheitlicher Nachteile: Einsamkeit führt in einem vergleichbaren Ausmaß wie Tabakkonsum zu früherer Mortalität. Sie steht in Zusammenhang mit einem höheren Risiko von Inaktivität, Rauchen oder risikobehaftetem Verhalten, Herzinfarkten und Schlaganfällen sowie einer höheren Anfälligkeit für Depressionen. Einsame Menschen leiden häufiger unter einem geringen Selbstwertgefühl, Schlafproblemen sowie Stress und haben ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken“ (S. 3; ausführliche Quellenangaben im Originaltext).

Zudem können sich die Folgen von Einsamkeit auch finanziell äußerst negativ bemerkbar machen, wie Bücker (2021) beschreibt: “Während vorübergehende Einsamkeit durchaus als normale menschliche Erfahrung beschrieben werden kann, hat chronische Einsamkeit gravierende negative Konsequenzen für die Gesundheit und die Lebenserwartung. Fulton und Jupp (2015) schätzten die Gesamtkosten für chronische Einsamkeit mittelfristig (15 Jahre) auf etwa £12.000 pro Person im Vergleich zu Personen, die nicht einsam sind. Etwa 40% der geschätzten Kosten traten innerhalb der ersten 5 Jahren in der chronischen Einsamkeit auf und etwa 20% der geschätzten Kosten waren mit der stationären Pflege verbunden” (S. 5).

 

 

🚀 Meaning Matters: eine Einordnung der Erkenntnisse zu Einsamkeit

1. Einsamkeit betrifft uns alle!

Selbst wenn wir zu den Glücklichen gehören, die nicht einsam sind: die Folgen von Einsamkeit gehen uns alle etwas an. Gesellschaftliche Spannungen wie die Schere zwischen Arm und Reich, politische Auswirkungen wie die Verbreitung von Verschwörungstheorien oder die erhöhten Belastungen für das Gesundheitssystem betreffen uns alle. Es ist an der Zeit zu handeln!

Und wenn wir zu denen gehören, die sich einsam fühlen? Dann sind wir in guter Gesellschaft. Allein die Erkenntnis, dass wir nicht die einzigen sind, die sich einsam fühlen, kann helfen, etwas besser mit der Situation klarzukommen. Möglicherweise gibt es eine Person, der wir uns anvertrauen können oder ein Projekt, bei dem wir uns engagieren können.

2. Die Chancen von Einsamkeit

Frankl betonte immer wieder, dass Menschen selbst in den schwierigsten Situationen einen tieferen Sinn finden können. Einsamkeit können wir als Chance sehen, um uns mit den eigenen Werten und Zielen auseinanderzusetzen. Einsamkeit kann so auch in eine Phase der Selbstreflexion und des Wachstums verwandelt werden. Zudem lehrte Frankl, dass jeder Mensch die Freiheit hat, seine Haltung zu den Gegebenheiten des Lebens zu wählen. Auch wenn Einsamkeit oft als äußerer Zustand empfunden wird, haben wir die Freiheit, unsere Einstellung dazu zu wählen. Wir können uns entscheiden, die Einsamkeit als vorübergehende Phase zu akzeptieren und bewusst nach Wegen zu suchen, um daraus hervorzukommen.

3. Die verborgene Seite von Einsamkeit

Über lange Zeit wurde Einsamkeit vor allem in der Philosophie diskutiert, hier vor allem als schöpferischer Zustand, von dem auch viele Künstler berichtet haben. Diese Auffassung wurde von dem Interesse der Soziologen und Psychologen im 20. Jahrhundert durch ein eher negativ geprägtes Bild abgelöst. Doch kann Einsamkeit auch etwas Gutes haben? Die Auszeit allein in der Natur, der ruhige Tag zuhause (auch mal ohne Partner und Kinder), die Stille während eines Spaziergangs allein, …? Damit sind wir beim Stichwort: für mich sind diese Aspekte Fälle von “alleinsein”, also frei gewählt — und damit abzugrenzen von Einsamkeit. Selbst in die Stille zu gehen, sich bewusst zurückzuziehen, kann unglaublich heilsam sein und kreative Prozesse fördern, aber eben nur dann, wenn wir es freiwillig tun.

 

What to do? Erste Ideen

Individuelle Ansätze

  • Einsamkeit akzeptieren: If you can feel it, you can heal it. So paradox es klingt und so schmerzhaft es auch sein mag: das Gefühl der Einsamkeit anzunehmen, ist der erste Schritt, um besser damit umzugehen. Nur so können wir anfangen, nach Wegen zur Lösung zu finden.
  • Sich “common humanity” bewusst machen: Wie Kristin Neff im Zusammenhang mit Selbstmitgefühl immer wieder zeigt, ist viel gewonnen, wenn wir uns bewusst machen, dass wir nicht die Einzigen sind, die solche Gefühle haben. Im Gegenteil: Es macht uns gerade zu Menschen und verbindet uns mit anderen.

Zwischenmenschliche Ansätze

  • Präsent sein und zuhören: Wann immer es möglich ist: Schenke jemand anderem etwas von deiner Zeit und deiner Aufmerksamkeit. Das kann Wunder wirken. Hier setzt auch die Dyadenpraxis auf Basis der Forschung von Prof. Tania Singer an: nachweislich kann das 10-wöchige Programm, in dem Teilnehmende jeden Tag 15 min. bewusstes Mitteilen und Zuhören üben, dazu führen, dass Gefühle von Einsamkeit und Angst reduziert, Resilienz hingegen gesteigert wird.
  • Sich sozial engagieren: gemeinsam mit anderen für eine Sache einzutreten oder Projekte voranzutreiben, kann das Gefühl der Einsamkeit schnell verringern. Zudem hilft es, sich über ein Thema zu vernetzen. Über Ehrenamtsplattformen und Apps können Projekte auch stadtspezifisch gesucht und gefunden werden.

Gesellschaftliche Ansätze

  • Förderung von Forschung: Weitere Unterstützung zur Förderung von wissenschaftlichen Erkenntnissen rund um Einsamkeit. Dazu gehört auch die regelmäßige Fortführung des Einsamkeitsbarometers zur Erfassung des aktuellen Stands und der langzeitlichen Entwicklung.
  • Aktionswoche Gemeinsam aus der Einsamkeit: Vom 17. bis 23. Juni 2024 findet die Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ statt. Dieses Jahr findet bereits die zweite Aktionswoche dieser Art statt. Sie soll für das Thema Einsamkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sensibilisieren und Unterstützungsangebote in ganz Deutschland sichtbar machen. In verschiedenen Formaten werden Begegnungsorte geschaffen und sichtbar gemacht. Damit soll das Thema der Einsamkeit enttabuisiert, Menschen zusammengebracht und ihnen Unterstützungsangebote aufgezeigt werden.