Vom Analphabeten zum Superhelden

Wir alle haben Gefühle, jeden Tag und jede Minute – doch die meisten von uns haben nie gelernt, gut mit ihnen umzugehen.

Während wir in der Schule Mathe und Deutsch gelernt haben, sind wir in Gefühlsdingen oft Analphabeten geblieben. Dabei liegt gerade hier eine unglaubliche Kraft, die wir uns im Alltag zunutze machen können: unsere Superpower Emotionen!


Emotionen, die unsichtbare Superpower

Indem wir unsere Gefühle wahrnehmen und benennen können, lernen wir besser mit ihnen umzugehen. Ein besserer Zugang zu unseren Gefühlen führt zu mehr Ruhe, Klarheit und Balance im Alltag erlangen. Sie sind eine wahre Superpower. Wir selbst können zu Superhelden unseres Lebens werden.

Doch was hilft uns dabei, das emotionale ABC zu lernen? Und wie können wir unsere emotionalen Superkräfte ohne großen Zeitaufwand im Alltag trainieren? Die Wissenschaft gibt Antworten. Und meine praktische Arbeit mit Klienten gibt weitere Impulse.


Innere Stärke durch Gefühle: Wunsch oder Realität?

Wir alle erleben Gefühle, jeden Tag aufs Neue. Einerseits gibt es Gefühle wie Freude, Liebe oder auch Überraschung, die uns geradezu beflügeln können. Andererseits gibt es Gefühle wie Wut oder Trauer, die den meisten von uns unangenehm sind. Manchmal können sie uns sogar überwältigen und wir sind außer uns.

Ein besserer Umgang mit all diesen Gefühlen kann uns helfen, mehr Klarheit und Ruhe in unseren Alltag zu bringen. Außerdem können Emotionen und Gefühle, wenn wir es wagen, auf sie zu hören, eine gute Entscheidungshilfe im Leben sein. Sie sind also eine echte Superkraft. Doch wie können wir mit ihnen umgehen?

Ein altes Sprichwort sagt: „If you can name it, you can tame it“, was so viel bedeutet wie: „Wenn du es benennen kannst, kannst du es auch zähmen“.

Das klingt erstmal einfach. Gleichzeitig haben die wenigsten von uns wirklich gelernt, Gefühle zu erkennen, geschweige denn, sie zu benennen.

Die schlechte Nachricht: Wir sind sozusagen „emotionale Analphabeten“. Was uns fehlt, ist die sogenannte „emotionale Alphabetisierung“. Die gute Nachricht: Genau wie Rechnen, Lesen und Schreiben können wir auch lernen, mit Gefühlen und Emotionen besser umzugehen. Und so zu Superhelden werden.


🧭 Aus der Praxis: Gefühle erkennen und benennen

Gefühle zu begreifen ist nicht immer einfach: Zum einen fehlt uns oft das Vokabular, das merke ich oft in der Arbeit mit Klienten. Zum anderen ist es oft mit der Erkenntnis und dem Zulassen verbunden, z.B. einen bestimmten Schmerz zu empfinden.

Nur: Ohne die Gefühle zuzulassen, können wir sie nicht hinter uns lassen. Im Gegenteil: Je mehr wir versuchen, sie zu verdrängen, desto stärker kommen sie zurück.

Das ist die Ironie des Verdrängens. Es fühlt sich so an, als verleihe es Kontrolle, dabei verlieren wir sie dabei. Erstens bestimmen unsere Gefühle, wo es langgeht. Und zweitens tauchen verdrängte Gefühle unweigerlich in unbeabsichtigter Weise wieder auf. Diesen Prozess nennen Psychologen emotionales Überlaufen.

– Susan David, Emotional Agility (auch auf Deutsch erhältlich)


Gefühle im Fokus: Der Wasserball-Effekt

Mir kommt dabei oft das Bild eines Wasserballs in den Sinn, den man unter die Wasseroberfläche drücken will. Je mehr man es versucht, desto größer wird der Druck. Und desto mehr Aufmerksamkeit und Energie wird gebunden, die für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung steht. Wenn wir aber den Wasserball (aka unsere Gefühle) an der Oberfläche schwimmen lassen, d.h. sie anerkennen, wird er bald auftauchen und wir haben den Blick (und die Ressourcen) frei für andere Themen.

Generell hilft es, sich bewusst zu machen:

  • Gefühle sind menschlich und gehören zu unserem Leben dazu.
  • Gefühle nicht zu bewerten ist ein Schlüssel zur Zufriedenheit.
  • Gefühle sind weder gut noch schlecht, sie sind einfach.

Aber wie können wir lernen, sie präzise auszudrücken, ohne ein ganzes Psychologiestudium zu absolvieren?

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Gefühle im Griff: Das Rad unserer Emotionen

Als Grundlage für die Erforschung der eigenen Gefühle dient das “Rad der Gefühle”. Meine Arbeit mit Klienten zeigt, dass es den Blick weitet und inspiriert, die Vielfalt und den jeweiligen Detailgrad der emotionalen Empfindungen überhaupt zu sehen. Diesen Möglichkeitenraum kennen zu lernen bedeutet also, das ABC der Gefühle zu lernen.

Das Rad der Emotionen  ist in drei ineinander greifende Kreise gegliedert.

  • Im inneren Kreis befinden sich die Basisemotionen, von denen man annimmt, dass sie auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich sind (ob es sechs oder sieben sind und wie sie genau heißen, darüber ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig).
  • Daraus ergeben sich – im zweiten Kreis – spezifische Ausprägungen.
  • Im dritten Kreis finden sich schließlich sehr feine Unterscheidungen von Emotionen, die uns helfen, präzise Formulierungen für unsere Empfindungen zu finden.

Umgekehrt funktioniert es übrigens auch: So lässt sich das Gefühl, schüchtern zu sein, in der Regel auf Unsicherheit zurückführen, die wiederum der Basisemotion Angst zugeordnet wird. Die Supermacht der Emotionen hat aber noch weitere Facetten, insbesondere im Hinblick auf das sensible Wahrnehmen und Erkennen.


🔎 Aus der Wissenschaft: Die Sprache/n der Gefühle

Die konkrete Benennung unserer Gefühle hat noch weitere Vorteile. Sprache bedeutet hier auch Identifikation: “man fühlt sich alleine” — man oder Du? Außerdem gibt es einen Unterschied, ob ich sage „Ich bin wütend“ oder „Ich verspüre Wut“. Im ersten Fall identifizieren wir unser ganzes Sein mit dem Gefühl, während wir im zweiten Fall eine temporäre Empfindung beschreiben (und nicht einen Teil von uns selbst).

Interessant ist, dass unsere Sprache tatsächlich helfen kann, ein besseres Verständnis für unsere Empfindungen zu kriegen. Eine wissenschaftliche Studie mit 2.474 Sprachen (!) hat gezeigt: je mehr Sprachen man spricht, desto mehr Empfindungen kann man spüren. Dazu die Autoren der Studie:

Viele menschliche Sprachen verfügen über ein reichhaltiges Vokabular, das sich mit der Kommunikation von Emotionen befasst. Obwohl nicht alle Wörter für Emotionen gebräuchlich sind – das deutsche Wort Sehnsucht bezieht sich auf einen starken Wunsch nach einem anderen Leben und hat keine direkte Übersetzung ins Englische – gibt es viele Wörter, die ähnliche emotionale Zustände in den gesprochenen Sprachen der Welt zu bezeichnen scheinen. Übersetzungswörterbücher legen zum Beispiel nahe, dass das englische Wort love mit dem türkischen Wort sevgi und dem ungarischen Wort szerelem gleichgesetzt werden kann. (eigene Übersetzung)


👉 Drei Schritte zum emotionalen Superhelden

Wie jede Kraft muss auch die Superkraft trainiert werden. Aber das ist viel einfacher, als die meisten von uns denken. Hier sind drei Tipps, um ein echter emotionaler Superheld zu werden.

1. Bewusst machen: Es gibt keine guten oder schlechten Gefühle.

Sie sind alle Teil unserer Erfahrung und haben ihre Berechtigung. Manche erinnern uns an freudige Erlebnisse wie Geburtstage oder Schulabschlüsse, andere an Sehnsucht oder Bedauern.

2. Wahrnehmen, nicht werten.

Je besser es uns gelingt, unsere Gefühle nicht zu bewerten, desto mehr Gelassenheit und Ruhe werden wir im Alltag erfahren. Die gewonnene Energie können wir dann viel besser für andere Dinge nutzen. Hilfreich für die Wahrnehmung ist unser Körper: Ein sensibles Achten auf seine Reaktionen kann uns gute Anhaltspunkte für Entscheidungen geben. Nicht umsonst sprechen wir oft vom „Bauchgefühl“.

3. Gefühle erkennen und benennen.

Unsere vielseitige Sprache und die damit verbundene Beschreibung von Gefühlen hilft uns, mehr Klarheit zu gewinnen. Das Rad der Gefühle kann dabei eine gute Hilfe sein. Je öfter wir es ausprobieren, desto besser werden wir darin.

Übung macht den Superhelden!

Vergiss‘ den langen Urlaub! So erholst du dich wirklich

Ferienzeiten sind gut und schön, aber wenn wir richtig entspannt, gesund und –  Überraschung – auch produktiv sein wollen, brauchen wir etwas anderes!


Nano-Urlaub statt Fernreise: Wie kleine Pausen deinen (Arbeits-)Alltag verändern

Eine Klarstellung zu Beginn: Urlaub ist großartig, daran besteht kein Zweifel (für mich zumindest). Aber wenn wir dauerhaft entspannt sein wollen, brauchen wir etwas anderes. Und das macht uns sogar produktiver und fördert unsere Gesundheit.

Die Rede ist vom Nano-Urlaub, herkömmlich auch “Pause” genannt. Das sind kleine Momente im Alltag, in denen wir von der Arbeit abschalten und durchatmen. Oder uns bewegen. Oder ein Gespräch führen. Gerade wenn es unser Ziel ist, gesund (und auch produktiv) zu bleiben, sind kurze Erholungsphasen wichtig. Man sollte sie sich gönnen!

Aber warum helfen uns Pausen, wenn sie doch wertvolle Arbeitszeit „stehlen“? Welche Arten von Nano-Urlaub gibt es überhaupt? Und wie kann ich auch meine Chefin davon überzeugen, dass kurze Entspannung zum Erfolg führt?


🧭 Aus der Philosophie: Re-create! Ein humanistischer Blick auf Produktivität

Allgemein gilt: Wer gut, erfolgreich und produktiv sein will, „gibt Gas”, rockt lange Arbeitstage und powert sich aus. Wirklich?

Die Philosophin Hannah Schragmann ist da anderer Meinung. In einem Podcast-Interview prägt sie einen humanistischen Produktivitätsbegriff: Produktiv ist nur, was reproduktiv ist. Soll heißen: Wirklich produktiv, also auch leistungsfähig, ist demnach nur jenes Verhalten, das eine Re-Produktion von Kräften bzw. Arbeitsleistungen zur Folge hat. Dies impliziert auch eine permanente (Re-)Produktion von Ressourcen, die nicht mit dem Erreichen eines Ziels abgeschlossen ist. Im Gegenteil: Je besser wir lernen, unsere Kräfte durch Pausen zu regenerieren, desto leistungsfähiger sind wir auch auf Dauer.

Man könnte auch sagen: Nur wer sich regelmäßig erholt, ist wirklich produktiv.

Nano-Pause statt Fernreise: so erholst du dich wirklich! | MEANING + More

Nano-Pause statt Fernreise: so erholst du dich wirklich! Image: Neslihan A.

Ich kenne das von mir selbst: Manchmal, wenn ich fest stecke, in einem Thema nicht weiterkomme und frustriert den Schreibtisch verlasse, löst sich etwas. Ein neuer Freiraum entsteht. Gerade der (räumliche) Abstand verschafft mir eine neue Perspektive, der gedankliche Block löst sich oft wie von selbst. Was braucht es also, um nicht in eine angespannte Überforderung zu geraten, sondern den Nano-Urlaub systematisch in den Alltag zu integrieren?


🔎 Aus der Wissenschaft: Hustle Culture entlarvt!

Alle wollen mehr, schneller und weiter – immer, typisch Hustle Culture! Die Idee, dass ausgerechnet Pausen, also Nano-Urlaube, uns stärker und leistungsfähiger machen sollen, klingt zu schön, um wahr zu sein! Oder? Fans der Forschung werden sich freuen, denn sie zeigt genau das Gegenteil. Und auch für alle anderen liefern die Studien stichhaltige Argumente, um die eigene Chefin zu überzeugen.

Gezielte Pausen können uns helfen, produktiver und kreativer zu werden. Drei Insights aus der Wissenschaft:

  1. Studienergebnisse zeigen: Ein Grund für die wertvolle Wirkung von Pausen ist, dass unser Gehirn regelmäßig Pausen braucht, um die aufgenommenen Informationen zu verarbeiten, zu verknüpfen und ins Langzeitgedächtnis zu übernehmen.
  2. In einer Metaanalyse konnten die Psychologen um Forscherin Albulescu zeigen, dass Pausen sogar der Schlüssel zur Produktivität sein können. In Experimenten konnte wiederholt gezeigt werden, dass sie die Vitalität steigern und die Müdigkeit reduzieren.
  3. Insbesondere kurze Pausen, auch Mikropausen genannt, zeigen diesen Effekt, den der Psychologe Alejandro Lleras erforscht hat: Schon kurze Ablenkungen von einer Aufgabe können die Fähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum auf diese Aufgabe zu konzentrieren, drastisch verbessern.

Wenn wir unserem Gehirn (und damit uns insgesamt) etwas Gutes tun wollen, sollten wir also bewusst entspannen – auch und gerade am Arbeitsplatz. Das sollte Führungskräften zu denken geben, denn es ist genau das Gegenteil der weit verbreiteten Hustle Culture.

Nur wer Pausen macht, kann inspiriert weiterarbeiten. Und nur wer Zeit für Zweckloses hat, kann sich und seine Fähigkeiten auf Dauer einbringen. Denn Tätigsein macht vielleicht glücklich, aber nur Muße macht produktiv.

– Ariadne von Schirach, Glücksversuche

Doch wie genau machen wir jetzt Pause und welche Arten von Erholung gibt es überhaupt?


👉 Aus der Praxis: Pause ist gleich Pause? Weit gefehlt!

Vielleicht hattest du auch schon mal einen Moment, in dem du wirklich erschöpft warst, aber ein Nickerchen auf der Couch nichts gebracht hat? Dann war es wahrscheinlich die falsche Art von Erholung, die falsche Art von Pause.

So, wie wir von verschiedenen Dingen, Themen und Menschen gestresst werden können, brauchen wir auch unterschiedliche Arten von Pausen.

Die amerikanische Ärztin Saundra Dalton-Smith begann sich aufgrund eigener Erschöpfungssymptome intensiver mit dem Thema Erholung zu beschäftigen. Durch ihre persönlichen Erfahrungen und die Beobachtung von Menschen, denen sie in ihrer klinischen Praxis und Forschung begegnete, identifizierte sie sieben Arten der Erholung: körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, sensorische, soziale und kreative Erholung. Ein Mangel an nur einer dieser Arten von Erholung kann sich negativ auf unsere Gesundheit, unsere Beziehungen und natürlich auch auf unsere Produktivität auswirken.

Sieben Wege zur Erholung: Welche Art von Pause brauchst du wirklich?

  1. Körperliche Erholung: Diese Art der Erholung umfasst sowohl passive Maßnahmen wie Schlaf und Nickerchen als auch aktive Maßnahmen wie Yoga, Stretching und Massage, die helfen, sich zu entspannen und zu regenerieren.
  2. Mentale Erholung: Diese Art der Erholung zielt darauf ab, den Geist zu beruhigen und zu entlasten. Techniken wie Meditation, Pausen während der Arbeit und Aktivitäten, die den Geist entspannen, sind hier hilfreich.
  3. Spirituelle Erholung: Diese Erholung bezieht sich auf das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben. Aktivitäten wie Gebet, Meditation, ehrenamtliche Arbeit und die Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft oder einem höheren Ziel tragen dazu bei.
  4. Emotionale Erholung: Diese Erholung umfasst das Erkennen und Ausdrücken von Emotionen sowie den Umgang mit emotionalem Stress. Ehrliche Gespräche, das Schreiben eines Tagebuchs und die Suche nach emotionaler Unterstützung sind hier unerlässlich.
  5. Sensorische Erholung: Diese Erholung reduziert die Überlastung der Sinne durch Licht, Lärm und Bildschirme. Maßnahmen wie die Vermeidung von Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen und der Aufenthalt in ruhiger, dunkler Umgebung sind hier wichtig.
  6. Kreative Erholung: Diese Form der Erholung fördert die Wiederherstellung der Kreativität durch inspirierende und stimulierende Aktivitäten. Kunstbetrachtung, Naturerlebnisse und kreative Hobbys wie Malen oder Musizieren gehören dazu.
  7. Soziale Erholung: Diese Art der Erholung betont die Bedeutung erfüllender sozialer Interaktionen und Beziehungen. Es geht darum, Zeit mit Menschen zu verbringen, die einen unterstützen und positiv beeinflussen, und weniger mit Menschen, die einem die Energie rauben.

Je nach dem, welchen Belastungen wir im Berufsleben (oder in anderen Lebensbereichen) ausgesetzt sind, kann es sogar kontraproduktiv sein, das berühmte Power Nap zu machen – es kann im Einzelfall eher helfen, sich etwas zu bewegen oder ein Gespräch mit einer Kollegin oder einem guten Freund zu suchen.


Kurze Pausen für langfristigen Erfolg

In einer Welt, die uns ständig zur Höchstleistung antreibt, wirkt die Idee, durch Pausen produktiver zu werden, erst mal paradox. Doch die Wissenschaft gibt uns Recht: Kurze Erholungsmomente, die sogenannten Nano-Urlaube, sind entscheidend für unsere Leistungsfähigkeit und Kreativität. Sie ermöglichen es dir, deine Kräfte regelmäßig zu regenerieren und verhindern so langfristige Erschöpfung und Burnout.

Es ist an der Zeit, die Bedeutung von Pausen zu erkennen und sie aktiv in deinen Alltag einzubauen. Nur so kannst du dein volles Potenzial ausschöpfen und dabei gesund und ausgeglichen bleiben. Je nach dem, auf welche Art du dich gestresst oder erschöpft fühlst, kann eine andere Art von Erholung besonders wirksam sein.

Denk dran: Tätigsein macht glücklich, aber nur Muße macht wirklich produktiv.

Leadership heute ist sinnlos – Welche Potenziale Führungskräfte oft genug übersehen

Das Gute im Sinn: Bedeutsamkeit bei der Arbeit

“Arbeit und Sinn – das hat nichts miteinander zu tun”, höre ich immer wieder von Führungskräften. Aber welche Rolle spielt das Thema Sinn im Zusammenhang mit Führung? Ich bin überzeugt: Sinn im Kontext von Führung spielt eine große Rolle. Und doch wird sie immer wieder unterschätzt.

Versteht man Sinn als die Verwirklichung von Werten oder als das, was das Leben lebenswert macht, dann darf er im Führungskontext nicht fehlen. Schließlich wollen die meisten von uns Sinn nicht nur privat, sondern (gerade) auch beruflich erleben. Ich behaupte sogar, dass gute Führung ohne Sinn gar nicht geht.

Doch was bedeutet Sinnorientierung im Arbeitsalltag ganz konkret? Welche Rahmenbedingungen können Führungspersonen schaffen, um das Sinnerleben von Mitarbeitenden zu fördern? Und welche Qualitäten sind dafür besonders wichtig?

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass große Themen wie Sinn und Werte auch Mut brauchen, um sie in Teams zu diskutieren. Ich weiß aber auch, dass es sich lohnt – wie in diesem Artikel nachzulesen ist.


Was bedeutet Führung vor dem Hintergrund der Sinnorientierung überhaupt?

Ausgehend vom Menschenbild Viktor Frankls ist es gerade im Zusammenhang mit Führung zunächst wichtig, den Menschen als entscheidendes und verantwortliches Wesen zu sehen. Das bedeutet, dass wir als Menschen grundsätzlich frei entscheiden und entsprechend handeln können. Natürlich haben wir nicht immer Einfluss auf das, was um uns herum geschieht. Aber Frankl hat immer wieder betont, dass wir selbst entscheiden können, wie wir auf Ereignisse reagieren.

Menschsein heißt bewusst-sein und verantwortlich-sein.

– Viktor Frankl

Sinnorientierung bedeutet auch, dem, was uns persönlich wertvoll und bedeutsam ist, besonder viel Raum zu geben. Gerade wenn das eigene Engagement dann zu etwas größerem Ganzen beiträgt, erleben wir tiefe Momente von Sinnerleben.

Für eine sinnorientierte Führung ist es deshalb zentral, den Mitarbeitenden ihre Verantwortung bewusst zu machen, ihnen Entscheidungsspielräume aufzuzeigen – und sie dann gewähren zu lassen. Sie erfahren eine Form von Selbstwirksamkeit, die sie wachsen und selbstbewusst werden lässt.

Dazu gehört auch ein klares Ja zu einer offenen Fehlerkultur, aus der alle lernen können. Und ein klares Nein zu kontrollierendem Mikromanagement. Sinnorientierte Führung heißt also zunächst, den Menschen als entscheidendes und verantwortliches Wesen anzuerkennen.

Darüber hinaus ist es wichtig, Bedeutsamkeit auf zwei Ebenen in den Blick zu nehmen. 

Einerseits geht es darum, im Dialog herauszukristallisieren, was dem Mitarbeitenden jeweils wichtig ist und welche Anknüpfungspunkte es im Arbeitsumfeld gibt. Andererseits ist es für die Führungskraft auch wichtig, die Bedeutung der jeweiligen Leistung für das Ganze klar zu kommunizieren, um das Sinnerleben des Mitarbeitenden zu fördern.


🔎 Aus der Wissenschaft: Welche Dimensionen prägen eine sinnvolle Arbeit?

Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen in eine ähnliche Richtung: Sinnvolle Arbeit trägt zum persönlichen und beruflichen Wohlbefinden bei. Die meisten Menschen streben nach mehr als nur einem Job, um Geld zu verdienen. Vielmehr sehnen wir uns nach einer Aufgabe, die uns erfüllt und Sinn bietet.

In der Studie Measuring Meaningful Work: The Work and Meaning Inventory (WAMI) haben die Autoren um Michael F. Steger drei relevante Dimensionen von sinnvoller Arbeit identifiziert:

  1. Positive Bedeutsamkeit: Menschen erleben ihre Arbeit als subjektiv bedeutsam.
  2. Sinnerleben in der Arbeit: Die Arbeit trägt dazu bei, Sinn im Alltag zu erleben.
  3. Gemeinwohlorientierung: Die Arbeit geht über das eigene Wohlbefinden hinaus und wirkt sich positiv auf andere aus.

Die Wissenschaftler betonen zudem den Zusammenhang zwischen Fehlzeiten und einer sinnvollen Arbeit.

In unseren Daten stand die Fehlzeitenquote nicht im Zusammenhang damit, ob die Mitarbeiter mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden waren oder nicht. Sie stand auch nicht im Zusammenhang damit, wie sehr sie sich ihrem Unternehmen verpflichtet fühlten. Es gab nicht einmal einen Zusammenhang mit der Absicht, den Arbeitgeber zu verlassen. Stattdessen deuten unsere Analysen darauf hin, dass die Menschen sich von einer Arbeit abwenden, die für sie keinen Sinn hat.

– Michael F. Steger et al. (eigene Übersetzung)

Welche Bedeutung hat Sinn im Führungskontext? Eine große, und wird dennoch oft unterschätzt. Image: Anastasia Shuraeva.


🧭 Aus der Logotherapie: Wie kann Sinnorientierung im Führungskontext gelingen?

Viele mögen sich fragen (und ich mich oft), was Sinn mit Führung zu tun hat. Das ist verständlich, denn die sogenannte Logotherapie & Existenzanalyse nach Frankl wird auch als sinnzentrierte Psychotherapie bezeichnet und hat auf den ersten Blick nichts mit Führung zu tun.

Dennoch lassen sich viele Grundlagen, wie das oben erwähnte Menschenbild, sehr gut auf den Arbeitskontext übertragen. Dies zeigte auch Walter Böckmann, ein Schüler Frankls, der durch seinen Ausspruch und das gleichnamige Buch “Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten” bekannt wurde. Er zeigt auf, dass Werte Möglichkeiten der Sinnerfüllung im beruflichen Kontext sind.

Wie aber können die logotherapeutischen Grundlagen rund um Sinn nun übertragen werden?

  1. Sinn ist immer individuell und kann nicht von außen „verordnet“, sondern nur selbst entdeckt (und schließlich umgesetzt) werden. Deshalb ist es für Führungskräfte wichtig, die Eigenverantwortung im Team zu fördern. Das bedeutet auch, Mitarbeitende im Rahmen ihrer Möglichkeiten einfach mal machen zu lassen, ihnen Entscheidungsfreiräume zu geben und sie zu ermutigen, ihre Gestaltungsspielräume selbstbewusst zu nutzen – auch mit dem Risiko, dass mal etwas daneben gehen kann. Aber wer hat nicht schon aus Fehlern gelernt?
  2. Sinn bezieht sich immer auf diesen einen, einzigartigen Moment. Das bedeutet nicht, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden nicht mit der Gesamtvision des Unternehmens abholen sollten. Es bedeutet aber, dass sie ebenso beweglich sein sollten (äußerlich und innerlich), sich auf vielleicht unerwartete Ereignisse einzustellen, die Situation neu zu bewerten und dann entsprechend zu handeln. Wer von uns hätte eine Pandemie und ihre (wirtschaftlichen und sozialen) Folgen vorhersehen können?
  3. Sinn wird vor allem dann verwirklicht, wenn man sich für etwas einsetzt, das über einen selbst hinausgeht. Für Führungskräfte ist es deshalb wichtig, den Mitarbeitenden immer wieder den größeren Zusammenhang zu erklären. Im Team oder in Einzelgesprächen können sie gemeinsam die Frage reflektieren: „Wofür ist es wichtig und relevant, dass du jetzt diesen einen Teil beiträgst?“

All diese Punkte gelten übrigens auch für die Führungskraft selbst, Stichwort Selbstführung: Was bewegt mich selbst und wofür will ich mich einsetzen? Welchen „Sinnanruf“ habe ich gerade, wie reagiere ich hier und jetzt darauf? Welche (neue) Entscheidung muss ich treffen, weil sich die (äußeren) Umstände verändert haben? Und auch: Welchen Beitrag leiste ich, der über mich und meine Person hinausgeht?

Wir können zusammenfassen: Sinnorientierte Führung bedeutet, Menschen als entscheidende und verantwortliche Akteure anzuerkennen und ihnen Räume für die eigene Sinnerfüllung zu eröffnen.


Für die Praxis: Welche Rahmenbedingungen können Führungskräfte schaffen, um Sinnerleben zu fördern?

Wenn es darum geht, Sinnorientierung in den Führungskontext zu integrieren, bedeutet dies auch, die Mitarbeitenden neben ihrer spezifischen Rolle vor allem als Menschen mit all ihren einzigartigen Seiten, Fähigkeiten und Potenzialen anzuerkennen.

In der Logotherapie gibt es den Grundsatz, dass jeder Mensch einzigartig und unverwechselbar ist. Und das ist ein Mensch auch, wenn er seine berufliche Tätigkeit ausübt. Dies gilt es nicht nur zu berücksichtigen, sondern daraus einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen. Doch wie kann ein Mehrwert entstehen, wenn Sinnerleben etwas Individuelles ist?

Die zentrale Aufgabe für Führungskräfte lautet: Möglichkeiten schaffen, um Sinn zu verwirklichen!

Das bedeutet einerseits, von und mit dem Mitarbeitenden lernen, welche Werte zentral für ihn/sie sind. Was ist es, was diesen Menschen berührt, aufregt, begeistert oder frustriert? All diese Empfindungen können gute Hinweise auf die Werte dieser Person geben. Diese Werte und das damit verbundene agile Mindset können auch als „agiles Sein“, also als innere Haltung verstanden werden (siehe dazu auch Wege agiler Führung – mit Sinn).

Zum anderen ist es Aufgabe der Führungskraft, Räume zu schaffen, um diese zu realisieren. Dazu gehören zeitliche und auch finanzielle Ressourcen ebenso wie aktuelle und qualitativ hochwertige Tools. Es braucht also auch die äußere Komponente, das agile Tun“, um das Sinnerleben im Team zu steigern.

Doch wie kann es gelingen, mehr über die Werte der Mitarbeitenden zu erfahren, um sie zu fördern?

Zwei Qualitäten sind zentral: fragen und zuhören.

Ein Erkenntnisgewinn durch fragen geht schon auf Sokrates zurück. Wir kennen den sokratischen Dialog als „Gesprächsführung“, bei der der Lernende durch Fragen selbst zur Erkenntnis gelangt. Eine Faustregel: Führungskräfte sollten mehr Fragen stellen als Antworten geben.

“Empathie und aktives Zuhören” gehört zu den Top Ten der Fähigkeiten, die Führungskräfte des Weltwirtschaftsforums für die Zukunft als zentral erachten – und wird weithin unterschätzt.

Die Autorin Nancy Kline spricht von der Schaffung so genannter „Thinking Environments“, Denkumgebungen, in denen die Teammitglieder Zeit und Raum haben, ihre eigenen Gedanken und Ideen neu zu entwickeln. Es ist erstaunlich, welche Prozesse in Gang gesetzt werden können, wenn man jemandem wirklich Zeit und Raum gibt – indem man zuhört, um zu verstehen, und nicht, um zu reagieren.

Drei gute Fragen, mit denen Führungskräfte einen Dialog beginnen können (Nancy Kline, Time to Think; eigene Übersetzung):

  1. Was läuft gut in Ihrer Arbeit oder in Ihrem Leben?
  2. Welche Erfolge haben Sie erreicht, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben?
  3. Was läuft Ihrer Meinung nach gut in unserem Projekt?

Leadership in Zukunft? Sinnvoll!

Sinn und Leadership passen besser zusammen, als man denkt. Sinnorientierung im Führungskontext bedeutet, den Menschen als verantwortlichen Akteur wahrzunehmen und ihm Räume zur individuellen Sinnverwirklichung zu eröffnen.

Für Führungskräfte ist es daher wichtig, im Dialog mit den Mitarbeitenden herauszufinden, welche Werte sie haben und welche Rolle diese im organisationalen Kontext spielen können. Hilfreich ist es auch, Agilität als innere und äußere Qualität zu verstehen (agile being und agile doing), denn das eine bedingt das andere. Und schließlich kann die Sinnhaftigkeit im Alltag vor allem dann gefördert werden, wenn der Beitrag zu einem größeren Ganzen in den Fokus gerückt wird.

Es liegt an uns, Leadership neu zu definieren und durch sinnorientierte Ansätze eine tiefere Verbindung und Erfüllung im Berufsleben zu schaffen – für uns selbst und unsere Teams!