Selbstverwirklichung? Ist nicht das Ziel!

Selbstverwirklichung… Klingt verlockend, nicht wahr?

Ein kleines Stück Erleuchtung hier, ein bisschen Persönlichkeitsentwicklung da, und voilà – du bist die beste Version deiner selbst!

Doch halt mal kurz: Vielleicht ist diese ewige Jagd nach „Selbstverwirklichung“ ja gar nicht das Ziel. Viktor Frankl, Psychiater und Holocaust-Überlebender, hätte darüber wohl nur müde gelächelt. In einem seiner letzten Interviews schüttelte er den Kopf über den Selbstoptimierungswahn (auch wenn er das damals nicht so genannte hätte).

Frankl sagt: „Es geht um mehr.“

Mehr als nur das Streben nach der perfekten Version von dir selbst. Mehr als noch höher, schneller, weiter. Aber um was genau geht’s dann?

Die kurze Antwort: Werteverwirklichung.

Die lange Antwort: findest du unten stehend. Den Link zum Interview (Video) auch.


Im Fokus: der Wille zum Sinn

Die Logotherapie, als eine unter anderen Psychotherapien, ist sozusagen eine „sinnzentrierte“ Psychotherapie, und zwar insofern, als die Logotherapie den Menschen nicht in erster Linie als vom Willen zum Vergnügen bestimmt, um nicht zu sagen dominiert, sieht, auch nicht vom Willen zur Macht im Sinne der Adlerschen Lehre, sondern grundsätzlich vom Willen zum Sinn. – Viktor Frankl


Was motiviert uns wirklich? Frankls überraschende Antworten

Der Wille nach Sinn ist grundlegend

Viktor Frankl betont, dass das Streben nach Sinn die primäre Motivation des Menschen ist. Sinn im Leben zu haben trägt wesentlich zum Überleben und zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Selbstverwirklichung ist nur ein „Nebenprodukt“, niemals das Ziel.

Drei Kategorien von Werten als Quellen für Sinn

Werte sind Möglichkeiten zur Sinnverwirklichung. Frankl kategorisiert hierbei drei Arten von Werten: schöpferische Werte, bei denen es darum geht, im Tun einen Sinn zu erleben; Erlebniswerte, bei denen das Erleben von etwas oder jemandem Sinn geben kann; und Einstellungswerte, die sich auf die Wahl der eigenen Reaktion auf Leiden konzentrieren.

Zentral dabei ist, dass wir Menschen uns nie nur auf einen einzelnen Wert fokussieren sollten (logotherapeutisch spricht man hier von pyramidaler Werteorientierung). Vielmehr sollten wir danach streben, verschiedene Werte in unserem Leben zu kultivieren (logotherapeutisch: paralelle Werteorientierung). Wenn dann mal ein Wert, also eine Quelle von Sinn, wegfällt, haben wir immer noch andere Säulen im Leben, auf die wir bauen können.

Die Macht der Einstellung und Entscheidung

Frankl betont die Bedeutung der Wahl der eigenen Einstellung, insbesondere in herausfordernden Situationen. Er weist darauf hin, dass der Einzelne auch dann, wenn er mit Leid oder Tod konfrontiert wird, entscheiden kann, wie er reagiert und in seiner Herangehensweise an die Umstände, denen er begegnet, einen Sinn finden kann. Wir können nicht immer die äußeren Umstände beeinflussen, aber wir haben immer die geistige Freiheit, uns zu ihnen einzustellen.

Logotherapie als sinnzentrierte Psychotherapie

In dem Interview stellt Frankl die Logotherapie als einen psychotherapeutischen Ansatz vor, der einen starken Fokus auf die Entdeckung und Erfüllung des Sinns im Leben legt. Sie steht im Gegensatz zu deterministischen und instinktgetriebenen Theorien, indem sie den Willen zum Sinn als Kernmotivation des Menschen hervorhebt. Im Kern steht das Menschenbild, das eine Person als frei und verantwortlich ansieht.

Innere Leere als Ausdruck von Sinnlosigkeit

Immer wieder erleben Menschen eine starke innere Leere, die mit Apathie, Langeweile und Interessenverlust einhergeht. Anstatt einen Wettbewerb zu entfachen, wem es schlechter geht, ruft Frankl dazu auf, Mitgefühl für diejenigen aufzubringen, denen es nicht gut geht und sie zu unterstützen


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Wie Viktor Frankls Sicht auf Sinn und Selbstverwirklichung unser Weltbild verändern kann

Zu Beginn dieses Interviews fragt der Moderator Viktor Frankl nach einem Zitat von Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Es gilt als einer der wichtigen Leitsatz des österreichschen Psychiaters und Holocaust-Überlebenden. Frankl erklärt, dass es überlebenswichtig sei, einen Sinn im Leben zu haben. Er ist überzeugt davon, dass der Wille zum Sinn die primäre Motivation des Menschen ist, ganz im Gegensatz zu deterministischen und instinktgetriebenen Theorien.

Frankl stellt die Logotherapie als einen psychotherapeutischen Ansatz vor, bei dem die Suche nach Sinn im Mittelpunkt steht. Selbstverwirklichung ist nur ein Nebenprodukt, niemals das Ziel.

Die Diskussion zwischen Frankl und dem Moderator verlagert sich auf die Erfahrung der inneren Leere und die Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Studierenden. Unabhängig davon, wer nun schwerer betroffen sei, betont Frankl die Bedeutung von Mitgefühl und der Unterstützung derjenigen, denen der Sinn für Sinn fehlt. Es gehe nicht darum, einen Wettbewerb zu entfachen, wem es schlechter geht, sondern darum, für Unterstützung zu sorgen.

(…) der Mann auf der Straße oder die Frau auf der Straße kann Tag für Tag einen Sinn darin finden, eine Tat zu vollbringen, ein Werk zu schaffen und – das ist das Kreative – kreativ zu sein und etwas zu erleben. Die Schönheit. Die Wahrheit als Forscher, oder das Gute im Umgang mit Menschen als Lehrer oder was auch immer. – Viktor Frankl

Zentral im Ansatz der Logotherapie sind Werte als Möglichkeiten zur Sinnverwirklichung. Frankl kategorisiert Werte in drei Arten: schöpferische, Erlebnis- und Einstellungswerte. Die schöpferischen Werte beziehen sich auf das aktive Tun einer Person, bspw. bei einem Projekt auf der Arbeit. Bei den Erfahrungswerten geht es darum, einen Sinn darin zu finden, etwas oder jemanden zu erleben, etwa einen Sonnenuntergang zu genießen oder die Einzigartigkeit eines Individuums zu erkennen. Einstellungswerte konzentrieren sich auf die Wahl der eigenen Reaktion auf Leiden – und zwar immer dann, wenn die Verwirklichung von schöpferischen und Erlebniswerten nicht (mehr) möglich ist.

Frankl erzählt von seinen Erlebnissen in einem der vier Konzentrationslager, die er überlebte, wo er und andere Gefangenen Trost in der Schönheit eines Sonnenuntergangs fanden. Er stellt fest, dass man selbst im Angesicht des Todes seine Haltung bewusst wählen und einen Sinn finden kann. Frankl schließt mit der Erklärung, dass die Vergangenheit eine Bedeutung hat, da alles, was man getan oder erlebt hat, ob positiv oder negativ, für immer erhalten bleibt und nicht rückgängig gemacht werden kann. Die Vergangenheit ist wie eine große Scheune, in der alle Handlungen eines Menschen gespeichert sind, sie sind unumkehrbar geschehen.

Dies ist ein Paradigma für Erfahrungswerte, für die Suche nach einem Sinn im Erleben, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu erreichen oder zu vollbringen, sondern einfach dadurch, dass man die unmittelbare Erfahrung macht, dass etwas Schönes in der Welt vor sich geht. – Viktor Frankl


Sinn statt Selbstverwirklichung: Wie die drei Wertekategorien unser Leben bereichern

Es ist verlockend, Selbstverwirklichung als das ultimative Ziel zu betrachten, doch Viktor Frankl zeigt uns, dass es sich lohnen kann, die Suche nach Sinn auf andere Weise zu gestalten.

Ein effektiver Ansatz ist es, sich auf die Verwirklichung der drei Wertekategorien zu konzentrieren, die Frankl beschreibt: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte.

  1. Kreative Auszeiten planen ist eine hervorragende Möglichkeit, schöpferische Werte zu leben. Wenn wir regelmäßig Zeit für kreative Projekte oder Hobbys einplanen, erleben wir direkte Erfüllung und Sinn durch unser Tun. Diese Momente der Kreativität bieten uns nicht nur eine Flucht aus dem Alltag, sondern auch eine tiefere Verbindung zu unseren eigenen Werten und Fähigkeiten.
  2. Erlebniswerte verwirklichen bedeutet, bewusst Zeit für die Erlebnisse einzuplanen, die uns Freude und Staunen bringen. Ob ein entspannender Spaziergang in der Natur, ein Besuch im Museum oder ein geselliges Treffen mit Freunden – solche Erlebnisse bereichern unser Leben und stärken unsere Fähigkeit, die Schönheit und Tiefe des Moments zu erleben.
  3. Schließlich können wir durch die sinnvolle Reaktion auf Herausforderungen die Einstellungswerte verwirklichen. In schwierigen Situationen bewusst eine positive Haltung zu wählen und nach einem Lern- oder Wachstumspotenzial zu suchen, ermöglicht es uns, auch in widrigen Umständen einen Sinn zu finden. Die Frage Wozu? (im Gegensatz zu Warum?) kann hier Wunder wirken.

Wann startest du durch?

Mit welchen Werten fängst du an?

Ikigai und Logotherapie – Auf der Suche nach Verbindungen

Stell‘ dir zwei Lebensgeschichten zur gleichen Zeit vor, eine in Österreich, die andere in Japan. Beide Biographien sind geprägt von Schicksalsschlägen, von tiefem Leid, vom Nachdenken über Traurigkeit, Hoffnung und Trauer.

Zwei Menschen, die darüber nachdenken, was das Leben lebenswert macht, was dem Leben einen Sinn gibt. Der eine ebnete aus eigener Erfahrung den Weg zur sinnzentrierten Psychotherapie (Viktor Frankl), die andere entwickelte und lebte mit ganzem Herzen das Konzept des Ikigai (Mieko Kamiya). Aber ihre Wege haben sich nie gekreuzt. Die Frage stellt sich…

Was wäre, wenn Viktor Frankl und Mieko Kamiya sich begegnet wären?

Sie hätten vielleicht darüber nachgedacht, wie man angesichts politischer Instabilität, zunehmender psychischer Probleme in der Gesellschaft und des Sinnverlusts vieler Menschen einen Sinn finden kann. Vielleicht hätten sie sich genüsslich zu einer Wiener Melange oder gar einer traditionellen Teezeremonie niedergelassen (um hier alle Klischees zu bedienen).

Als Begründer der Logotherapie (Viktor Frankl) und der Ikigai-Psychologie (Mieko Kamiya) hätten sie sich vielleicht auch über ihre Quellen dessen ausgetauscht, was ihr Leben trotz oder gerade wegen allen Leids lebenswert macht. Vielleicht hätten sie auch über ihre Ansätze, dem Leben einen Sinn zu geben, und über ihre Beziehung zueinander gesprochen.

All das hätte passieren können, aber wir können es nicht wissen. Wir können aber Zusammenhänge erforschen, die zu ihren Lebzeiten noch nicht entdeckt waren.


Über das Leiden – Eine Lebenszeit, viele Erfahrungen

Viktor Frankl und Mieko Kamiya stellten sich vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen großen Leids Fragen wie…

  • Was gibt Menschen Hoffnung im Angesicht von Leiden?
  • Was brauchen Menschen, um sich weniger als Opfer und mehr als aktive Gestalter ihres Lebens zu fühlen?
  • Wie können wir Zeiten von tiefer Trauer und Kummer überwinden?

Es ist das Leben, das uns die Fragen stellt, wir haben zu antworten und diese Antworten zu ver-antworten. Nichts anderes kommt uns Menschen zu! – Viktor Frankl

Beide haben viel über das Leiden nachgedacht, geschrieben und gesprochen. Es ist erstaunlich, wie sehr ihre Einstellung zum Leiden, ihr Umgang damit und ihre Integration des Leidens in das Leben ihrer Einstellung zum Leben ähneln.

Haltung: Viktor Frankl und Mieko Kamiya sahen das Leiden als Teil des Lebens – und trotzdem (oder gerade deshalb) kann das Leben besonders lebenswert sein.

Anwendung: Beide waren herausgefordert, ihre Ansätze auf ihr eigenes Leben „anzuwenden“, als sie schweres Leid erfuhren.

Integration: Beide haben in ihrem eigenen Leben schweres Leid erfahren und viel darüber geschrieben; ihnen war klar, dass es mehr braucht als nur Medikamente.


Viktor Frankl (Logotherapie) und Mieko Kamiya (Ikigai) | MEANING + More

Viktor Frankl (Begründer Logotherapie) und Mieko Kamiya (Begründerin Ikigai)

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Mieko Kamiya – Hingabe an das Schreiben nach Medizin, Ehe und Mutterschaft

Mieko Kamiya, die Begründerin der Ikigai-Psychologie, wurde 1914 in Okayama, Japan, geboren. Durch den Umzug ihrer Familie in die Schweiz kam sie in ihrer Kindheit mit verschiedenen Kulturen in Kontakt und sprach später fliessend Deutsch und Englisch. Nachdem sie in ihren frühen Zwanzigern die Liebe ihres Lebens verloren hatte, suchte sie lange nach einem Sinn in ihrem Leben. Sie erhielt eine umfassende Ausbildung in klassischer Literatur und Sprachen (u.a. Italienisch, Deutsch, Französisch und Griechisch), darunter auch Marcus Aurelius, den sie später ins Japanische übersetzte.

Schon als Studentin besuchte sie zufällig ein Sanatorium und war tief beeindruckt von den Leprakranken dort. Sie spürte, dass sie eines Tages für sie arbeiten würde, aber das sollte noch einige Jahre dauern. Später begann sie ein Medizinstudium in den USA, kehrte aber aus Angst vor dem drohenden Krieg nach Japan zurück, wo sie Ärztin wurde. Schon früh behandelte sie Leprakranke und begann, sich für Psychiatrie zu interessieren.

Laut Wörterbuch bedeutet ikigai „Kraft, die man braucht, um in dieser Welt zu leben, Glück, Lebendigkeit, Nützlichkeit, Wirksamkeit“. Wenn wir versuchen, es ins Englische, Deutsche, Französische usw. zu übersetzen, scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, es anders als „lebenswert“ oder „Wert oder Sinn des Lebens“ zu definieren. – Mieko Kamiya

Erst nachdem sie geheiratet und zwei Kinder geboren hatte, widmete sie ihr Leben dem Schreiben, ihrem persönlichen Ikigai. Damit erfüllte sich die Vorhersage eines engen Freundes: „Ich sage dir deine Zukunft voraus. Du wirst Schriftstellerin werden, nachdem du die drei M [Medizin, Marriage (Ehe) und Mutterschaft] absolviert hast“.

Ihr bekanntestes Buch ist „Über den Sinn des Lebens“ (japanisch: Ikigai Ni Tsuite), das nie übersetzt wurde, während Auszüge aus ihren Tagebüchern in ihrer Biografie „Eine Frau mit Dämonen“ zu finden sind. Mieko Kamiya starb 1979 im Alter von 65 Jahren an einer Herzerkrankung.


Die Bedeutung von Sinn – Ikigai-kan

Das Leben der beiden hat sich zeitlich und räumlich stark überlappt. Dennoch gibt es keinen Bericht darüber, dass sie sich jemals getroffen hätten.

Wir wissen nur, dass Kamiya Frankl zitierte, als sie über Ikigai-kan, das Gefühl von Ikigai, schrieb.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Wort „Ikigai“ zu verwenden: Es kann sich auf die Quelle oder das Objekt des Lebenswerts beziehen, wie in „Dieses Kind ist mein Ikigai“, oder es kann sich auf den geistigen Zustand des Gefühls des Ikigai beziehen. Letzteres ist das, was Frankl den „Sinn des Sinns“ nennt. Ich werde ihn „Ikigai-Kan“ nennen, um ihn von dem ersteren „Ikigai“ selbst zu unterscheiden“, sagte Mieko Kamiya.


Viktor Frankl – Perspektiven aus dem tiefsten Tal und von den höchsten Bergen

Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, wurde 1905 in Wien geboren. Der Neurologe und Psychiater begann sich im Alter von 15 Jahren mit den Themen Leere und Sinnlosigkeit zu beschäftigen, als er mit der hohen Selbstmordrate von Jugendlichen in seiner Gemeinde konfrontiert wurde.

Er hatte bereits die Grundlagen dessen geschrieben, was später als Logotherapie und Existenzanalyse bekannt wurde, bevor er während des Zweiten Weltkriegs in vier Konzentrationslager kam. Natürlich konnte er nichts mitnehmen und verlor alle seine Manuskripte. Schlimmer noch, er verlor seine Frau, seine Eltern und enge Freunde im Krieg.

Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, muss auch Leiden einen Sinn haben. Es kommt nicht darauf an, was man leidet, sondern wie man es auf sich nimmt. – Viktor Frankl

Es heißt, er habe nur neun Tage gebraucht, um alle grundlegenden Konzepte niederzuschreiben. Sein Buch „Die Suche des Menschen nach dem Sinn“ wurde zu einem der meistverkauften Bücher aller Zeiten.

Weniger bekannt ist, dass er trotz seiner Höhenangst ein großer Bergsteiger war. Nachdem er seine erste Frau verloren hatte, heiratete er erneut und nahm spät in seinem Leben Flugstunden. Im Alter von 68 Jahren erwarb Frankl den Alleinflugschein. Nachdem er die Logotherapie und Existenzanalyse weiterentwickelt hatte, arbeitete er mit vielen Patienten und gab seine Erfahrungen in der ganzen Welt weiter, nicht zuletzt in den USA und in Japan. Viktor Frankl starb 1997 in Wien.


Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie

  1. Sinn und Ikigai sind nicht das eine große Ding im Leben, vielmehr beschreiben sie beide Dinge, Menschen, Momente, die das Leben lebenswert machen.

Eine Person, die am ehesten ein Gefühl von Ikigai verspürt, ist von ihrer Lebensnotwendigkeit überzeugt, ist sich ihres Ziels der „Selbsterhaltung“ klar bewusst und setzt sich voll und ganz für dieses Ziel ein. – Mieko Kamiya, “Ikigai ni Tsuite”

Weil beide Ansätze – Ikigai und Logotherapie – davon ausgehen, dass das, wofür es sich zu leben lohnt, im Alltag, im Kleinen (und manchmal auch im Großen) zu finden ist, sind wir handlungs- und gestaltungsfähig. Auf diese Weise können wir Veränderung, Wachstum und Reaktionsfähigkeit fördern.

  1. Sinn und Ikigai sind beide höchst individuell und an die jeweilige Situation gebunden; es gibt nicht die eine Regel, was für uns sinnvoll ist.

Jeder Tag, jede Stunde wartet mit einem neuen Sinn auf, und auf jeden Menschen wartet ein anderer Sinn – Viktor Frankl

Da Ikigai und Sinn individuell und situationsabhängig sind, können wir hoffnungsvoll sein. Wie reich ist unser Leben, wenn jeder Moment uns eine neue Gelegenheit bietet, zu entscheiden, wer wir in der Zukunft sein wollen?

  1. Es gibt viele Quellen für Sinn und Ikigai in unserem Leben, nicht nur eine.

In der Logotherapie und Existenzanalyse sind Werte Möglichkeiten der Sinnverwirklichung. In der Logotherapie werden drei Kategorien von Werten unterschieden: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. In Anlehnung an Mieko Kamiyas Konzept des Ikigai gibt es sieben Dimensionen: Lebenszufriedenheit, Wachstum und Veränderung, gute Zukunft, Resonanz, Freiheit, Selbstverwirklichung, Sinn und Werte.

Besonders interessant ist, dass beide Lebenskonzepte Freiheit als Grundlage für den Sinn des Lebens sehen. Auf der einen Seite bezieht sich dies auf die individuellen Entscheidungen: “[Ein Mensch, der eine persönliche Lebensaufgabe hat, die er aktiv verfolgt, lebt Ikigai auf höchstem Niveau.” – Mieko Kamiya

Andererseits ist Freiheit immer mit Verantwortung verbunden. Das sind zwei Seiten derselben Medaille – das ist der Kern dessen, was uns zu Menschen macht. Deshalb gibt uns jeder Augenblick (individuell) eine neue Chance zu entscheiden, wer wir einmal sein wollen.


Ikigai & Logotherapie – Eine vorläufige Zusammenfassung

Auch wenn es viele Verbindungen zwischen Ikigai und Logotherapie gibt, die noch erforscht werden müssen, können wir heute drei Punkte miteinander verbinden.

  • Erstens sahen Viktor Frankl und Mieko Kamiya das Leiden einfach als Teil des Lebens (und nicht als katastrophale Ausnahme vom Alltag). Als Menschen können wir jedoch entdecken, was für uns lebenswert ist.
  • Zweitens: Ikigai-kan und Sinn finden wir im Tun und Sein (nicht im Denken und Reden darüber) – und es ist immer einzigartig und besonders.
  • Drittens: Es ist unsere Freiheit, in jedem Moment eine Entscheidung zu treffen. Wir können unsere Umwelt nicht immer ändern oder beeinflussen, aber wir haben immer die Freiheit, unsere Einstellung zu ihr zu ändern.

Was die Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben – und was uns trennt

Die Frage “Arbeitest du mit der zusammen?” erreichte mich vor einer Woche per WhatsApp. Verlinkt war ein Instagram-Post von Influencerin Laura Seiler, der die Grafik eines Abreißzettels zeigte: „Nimm, was du brauchst“.

Warum die Frage nach einer Kooperation?

Vermutlich, weil ich selbst gut zwei Wochen vorher über meinen Account @meaningandmore ein Foto des Abreißzettels geteilt hatte, den ich mit eigenen Illustrationen und kleinen Übungen für Pausen im Alltag gestaltet hatte. Der Titel? Nimm’ dir, was du brauchst.

Die kurze Antwort: Nein, wir arbeiten nicht zusammen.

Wie es zu dieser frappierenden Ähnlichkeit der beiden Posts kommt, kann ich mir nicht erklären. Laura übrigens auch nicht: Auf meine direkte Frage, die nur in den Kommentaren stellen konnte, bekam ich zwar ein Like-Herzchen, aber keine Antwort.

Ein Schelm, wer denkt, dass Lauras Post eine bewusste Kopie meiner Arbeit sein könnte (gleichwohl das Thema Plagiate bei Social Media Content groß zu sein scheint)!

Die längere Antwort: folgt in diesem Newsletter.

Uns beide verbindet vieles in unserer Arbeit. Und mehr Sachen trennen uns. Nehmen wir die beiden Instagram-Posts als Beispiel, um einige Dinge zu verdeutlichen.


Für mehr Unterstützung durch innere Arbeit

Nach allem, was ich gesehen und gelesen habe, haben Laura und ich gemeinsam, dass wir mit unserer Arbeit Menschen helfen und Gutes tun wollen.

Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen möchten wir andere auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil und mehr Wohlbefinden durch innere Arbeit unterstützen.

  • Einerseits wollen wir Menschen ermutigen, sich auch herausfordernden Themen zuzuwenden, denn wir sind überzeugt, dass wir viele Ressourcen in uns tragen. Je klarer wir unsere eigenen Prägungen, Glaubenssätze und Muster erkennen, desto besser können wir mit ihnen arbeiten oder sie überwinden.
  • Andererseits wollen Laura und ich beide Wege aufzeigen und konkrete Hilfestellungen geben, um Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Das können bspw. Übungen wie Meditationen oder Atemtechniken sein.

Im Fall der beiden Instagram-Posts war es die wohlwollende Aufforderung, sich das zu nehmen, was man gerade braucht. Und das kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, deshalb gibt es jeweils verschiedene Optionen (zufällig genau fünf in beiden Posts).

Unser Ansatz ist jedoch ein ganz anderer.


Was Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben - und was uns trennt | MEANING + More

Collage mit Screenshots von Instagram-Posts (Dr. Nina Bürklin)


Schnelles Glück oder tiefer Sinn: Was macht ein gutes Leben aus?

Wenn wir von Wohlbefinden sprechen, ist ein gelingendes Leben nicht weit weg. Viele glauben, dass ein gutes Leben mehr mit Glück (engl. happiness) als mit Sinn (engl. meaning) zu tun hat.

Es ist eine dieser Fragen, über die sich seit Jahrtausenden viele Philosophen (und andere kluge Menschen) den Kopf zerbrochen haben, Stichwort: eudiamonia vs. hedonia.

Auch die moderne Forschung von Roy F. Baumeister und Kollegen zeigt, dass es sich um zwei grundverschiedene Dinge handelt. Glücklich sein und das Leben als sinnvoll empfinden überschneiden sich, aber es gibt auch wichtige Unterschiede.

Was also führt zu einem gelungenen Leben?

Ich selbst gehöre zum “Team Meaning” und bin überzeugt, dass ein gutes Leben nicht immer nur aus dem Schönen, Leichten und Angenehmen besteht, sondern dass wir dafür wachsen müssen — auch und gerade durch Krisen, die wir durchleben.

Das Leben verlangt uns etwas ab, wir müssen uns engagieren. Und das gelingt dann besonders gut, wenn wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und unser Leben aktiv gestalten (siehe auch unten: Menschenbild), wenn wir uns also von einer Sinnorientierung leiten lassen.


Langsames Glück (aka Sinnerleben) erfordert Engagement

Die Philosophin Rebekka Reinhard nutzt andere Begriffe. Sie vergleicht schnelles und langsames Glück und gibt damit Hinweise auf ein gutes Leben:

Jedes Glück, das sofort gute Laune macht, ist schnelles Glück. Es kommt schnell, ist aber auch schnell wieder vorbei. Daneben existiert still und leise das langsame Glück. Langsames Glück ist unspektakulär, dafür aber wenig störanfällig. Wenn Sie seinen Wert erkennen, begleitet es Sie in allem, was Sie tun, denken und fühlen. (…) Langsames Glück verlangt lebenslanges Engagement von Hirn und Herz. Schnelles Glück will man haben, langsam glücklich wird man.

— Rebekka Reinhard, Die Kunst, gut zu sein

Die gleiche Haltung hatte ich auch bei der Entwicklung meines Abreißzettels. Während die Optionen des Abreißzettels bei Laura schlicht “Magie”, “Fokus” oder “Ruhe” beinhalten, gibt es in meinem Post jeweils eine konkrete Übung pro Stichwort, um den Transfer in den Alltag noch mehr zu erleichtern.

Stimmt, diese 10-12 Worte müssen gelesen und – noch krasser – tatsächlich umgesetzt werden. Wir müssen uns engagieren, um von einem “weiten Blick” oder einem “ruhigen Atemzug” zu profitieren. Die kurze Stille, das bewusste Lächeln oder ein ruhiger Herzschlag kommen nicht von selbst.

In Lauras Caption steht lediglich der Hinweis “Kommentier’s unten, damit es zu dir kommen kann”. Inwiefern ein Kommentar von mir unter Lauras Post zu mehr Fokus bei mir führen sollte, verstehe ich nicht.

Es scheint einfacher und/oder bequemer zu sein, etwas in den sozialen Medien zu kommentieren, als sich beispielsweise 30 Sekunden Zeit für eine bewusste Atemtechnik oder eine vielfach erprobte Achtsamkeitspraxis zu nehmen.

Während die Leser meines Posts also im besten Fall ihre Sinne geschärft und sich einen Moment der Ruhe gegönnt haben, haben mittlerweile über 700 von Lauras Followern einen Kommentar hinterlassen.

Möge die Magie mit ihnen sein.


Freiheit oder Bestimmung durch’s Universum: Wie unser Menschenbild unsere Arbeit prägt

Ich kann die Sehnsucht nach Einfachheit Komplexitätsreduktion in unserer heutigen Welt gut nachvollziehen. Wer von uns hat sich nicht schon einmal gewünscht, dass alles einfacher wäre: entweder schwarz oder weiß, entweder gut oder böse. Doch so leicht ist es leider nicht.

In meiner Arbeit stelle ich mich dieser Herausforderung immer wieder.

  • Ich versuche einerseits, die oft abstrakten Begriffe der Logotherapie nach Viktor Frankl (meiner philosophischen und therapeutischen “Heimat”) zu erklären und mit alltagsnahen Beispielen zu füllen, so auch in diesem Newsletter.
  • Zum anderen bemühe ich mich, wo immer möglich, aktuelle Forschungsergebnisse einfließen zu lassen, sie entsprechend einzuordnen und etwas umgangssprachlicher zu formulieren.

Deswegen war es mir wichtig, in der Caption meines Instagram-Posts auf die weiterführende Website zu verweisen, auf der neben weiteren Übungen auch eine ausführliche Erklärung mit wissenschaftlichem Hintergrund zu finden ist.

In der Caption von Lauras Post hingegen ist zu lesen, dass sie eine “Portion Magic” braucht. Es gibt aber keinen Hinweis, wie sie diese bekommt.

Gut möglich, dass sich unser Anspruch an einen Instagram-Post hier unterscheidet: schnelles vs. langsames Glück? Und auch gut möglich, dass ihr Beitrag deswegen über 4.000 Likes bekommt.


Wie wir auf die Welt schauen, so arbeiten wir auch

Ein klares Menschenbild zu haben, das ich meiner Arbeit zugrunde lege, erscheint mir elementar. Ich gehe sogar noch weiter: Ohne ein klares Menschenbild könnte ich meine Arbeit nicht machen.

Ich selbst durfte mir im Rahmen meiner 3,5-jährigen Ausbildung die Grundlagen der Logotherapie zu eigen machen und in weiteren Fortbildungen vertiefen. Dazu gehört auch die Haltung, dass wir verantwortlich sind: Das Leben stellt die Fragen und wir haben zu antworten.

Mensch sein heißt bewusst sein und verantwortlich sein. — Viktor Frankl

Drei Punkte sind in Summe streitbar, aber klar verankert in der Logotherapie:

  1. Freier Wille. Das Zitat bringt den Kern des Menschenbildes nach Frankl auf den Punkt, demzufolge wir Menschen freie und entscheidende Wesen sind. Konkret bedeutet es, dass wir nicht von außen bestimmt werden und dass wir uns zu einer gegebenen Situation immer so oder so einstellen können. Es heißt nicht, dass wir immer etwas aktiv steuern oder direkt beeinflussen können, sondern dass wir über unsere Haltung zu den Dingen entscheiden können.
  2. Der Wille zum Sinn. Laut Frankl ist Sinn die stärkste Motivationskraft des Menschen. Wir streben also danach, sinnerfüllt zu leben. Damit hebt er sich klar von seinen Vorgänger ab, die unsere Triebe (Freud; 1. Wiener Schule) oder unser Streben nach Macht (Adler; 2. Wiener Schule) als Grundmotivation menschlichen Handelns sehen.
  3. Sinn im Leben. Grundlage der Logotherapie ist, dass unser Leben immer Sinn in sich trägt. Das heißt nicht, dass es sich in jedem Moment sinnvoll anfühlt. Wohl aber bedeutet diese Auffassung, dass es uns (sofern wir nicht zu stark psychisch oder anderweitig eingeschränkt sind) zu jedem Zeitpunkt möglich ist, dem Leben einen Sinn abzuringen.

Es geht mir nicht drum, dass alle Leser dieses Artikels dem zustimmen oder die gleiche Haltung haben. Mir ist es wichtig, dieses explizite Menschenbild als Grundlage meiner Arbeit transparent zu machen und danach zu handeln.

Bei Laura konnte ich ein solches Menschenbild nicht entdecken. Bei vielen anderen Coaches und Therapeuten übrigens auch nicht.


Schneller Kommentar oder aktives Engagement: was zählt?

In einer Welt, die nach schnellen Lösungen und einfachen Antworten verlangt, ist es verlockend, sich auf das zu konzentrieren, was leicht und angenehm ist. Ein Like-Herzchen hier, ein schneller Kommentar dort.

Doch wahres Wachstum und tiefes, langfristiges Glück erfordern mehr. Sie verlangen Engagement, die Bereitschaft, sich immer wieder den Herausforderungen zu stellen und der Verantwortung für das eigene Leben gerecht zu werden. Sie verlangen, aktiv zu bleiben.

Um wirklich lebendig zu bleiben, müssen wir uns für Mut statt Bequemlichkeit entscheiden. Nur so können wir wachsen, aufsteigen und uns selbst herausfordern.

– Susan David, Emotionale Beweglichkeit

Menschen wie Laura und ich mögen auf den ersten Blick ähnliche Ziele verfolgen, doch unsere Ansätze könnten kaum unterschiedlicher sein.

Trotzdem bin ich überzeugt: Unsere jeweilige Intention ist genuin gut. Und so wird jede von uns genau die Menschen ansprechen und abholen, die von unseren jeweiligen Arbeit profitieren.

Mögen wir beide glücklich sein.

Vom Analphabeten zum Superhelden

Wir alle haben Gefühle, jeden Tag und jede Minute – doch die meisten von uns haben nie gelernt, gut mit ihnen umzugehen.

Während wir in der Schule Mathe und Deutsch gelernt haben, sind wir in Gefühlsdingen oft Analphabeten geblieben. Dabei liegt gerade hier eine unglaubliche Kraft, die wir uns im Alltag zunutze machen können: unsere Superpower Emotionen!


Emotionen, die unsichtbare Superpower

Indem wir unsere Gefühle wahrnehmen und benennen können, lernen wir besser mit ihnen umzugehen. Ein besserer Zugang zu unseren Gefühlen führt zu mehr Ruhe, Klarheit und Balance im Alltag erlangen. Sie sind eine wahre Superpower. Wir selbst können zu Superhelden unseres Lebens werden.

Doch was hilft uns dabei, das emotionale ABC zu lernen? Und wie können wir unsere emotionalen Superkräfte ohne großen Zeitaufwand im Alltag trainieren? Die Wissenschaft gibt Antworten. Und meine praktische Arbeit mit Klienten gibt weitere Impulse.


Innere Stärke durch Gefühle: Wunsch oder Realität?

Wir alle erleben Gefühle, jeden Tag aufs Neue. Einerseits gibt es Gefühle wie Freude, Liebe oder auch Überraschung, die uns geradezu beflügeln können. Andererseits gibt es Gefühle wie Wut oder Trauer, die den meisten von uns unangenehm sind. Manchmal können sie uns sogar überwältigen und wir sind außer uns.

Ein besserer Umgang mit all diesen Gefühlen kann uns helfen, mehr Klarheit und Ruhe in unseren Alltag zu bringen. Außerdem können Emotionen und Gefühle, wenn wir es wagen, auf sie zu hören, eine gute Entscheidungshilfe im Leben sein. Sie sind also eine echte Superkraft. Doch wie können wir mit ihnen umgehen?

Ein altes Sprichwort sagt: „If you can name it, you can tame it“, was so viel bedeutet wie: „Wenn du es benennen kannst, kannst du es auch zähmen“.

Das klingt erstmal einfach. Gleichzeitig haben die wenigsten von uns wirklich gelernt, Gefühle zu erkennen, geschweige denn, sie zu benennen.

Die schlechte Nachricht: Wir sind sozusagen „emotionale Analphabeten“. Was uns fehlt, ist die sogenannte „emotionale Alphabetisierung“. Die gute Nachricht: Genau wie Rechnen, Lesen und Schreiben können wir auch lernen, mit Gefühlen und Emotionen besser umzugehen. Und so zu Superhelden werden.


🧭 Aus der Praxis: Gefühle erkennen und benennen

Gefühle zu begreifen ist nicht immer einfach: Zum einen fehlt uns oft das Vokabular, das merke ich oft in der Arbeit mit Klienten. Zum anderen ist es oft mit der Erkenntnis und dem Zulassen verbunden, z.B. einen bestimmten Schmerz zu empfinden.

Nur: Ohne die Gefühle zuzulassen, können wir sie nicht hinter uns lassen. Im Gegenteil: Je mehr wir versuchen, sie zu verdrängen, desto stärker kommen sie zurück.

Das ist die Ironie des Verdrängens. Es fühlt sich so an, als verleihe es Kontrolle, dabei verlieren wir sie dabei. Erstens bestimmen unsere Gefühle, wo es langgeht. Und zweitens tauchen verdrängte Gefühle unweigerlich in unbeabsichtigter Weise wieder auf. Diesen Prozess nennen Psychologen emotionales Überlaufen.

– Susan David, Emotional Agility (auch auf Deutsch erhältlich)


Gefühle im Fokus: Der Wasserball-Effekt

Mir kommt dabei oft das Bild eines Wasserballs in den Sinn, den man unter die Wasseroberfläche drücken will. Je mehr man es versucht, desto größer wird der Druck. Und desto mehr Aufmerksamkeit und Energie wird gebunden, die für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung steht. Wenn wir aber den Wasserball (aka unsere Gefühle) an der Oberfläche schwimmen lassen, d.h. sie anerkennen, wird er bald auftauchen und wir haben den Blick (und die Ressourcen) frei für andere Themen.

Generell hilft es, sich bewusst zu machen:

  • Gefühle sind menschlich und gehören zu unserem Leben dazu.
  • Gefühle nicht zu bewerten ist ein Schlüssel zur Zufriedenheit.
  • Gefühle sind weder gut noch schlecht, sie sind einfach.

Aber wie können wir lernen, sie präzise auszudrücken, ohne ein ganzes Psychologiestudium zu absolvieren?

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Gefühle im Griff: Das Rad unserer Emotionen

Als Grundlage für die Erforschung der eigenen Gefühle dient das “Rad der Gefühle”. Meine Arbeit mit Klienten zeigt, dass es den Blick weitet und inspiriert, die Vielfalt und den jeweiligen Detailgrad der emotionalen Empfindungen überhaupt zu sehen. Diesen Möglichkeitenraum kennen zu lernen bedeutet also, das ABC der Gefühle zu lernen.

Das Rad der Emotionen  ist in drei ineinander greifende Kreise gegliedert.

  • Im inneren Kreis befinden sich die Basisemotionen, von denen man annimmt, dass sie auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich sind (ob es sechs oder sieben sind und wie sie genau heißen, darüber ist sich die Wissenschaft bis heute nicht einig).
  • Daraus ergeben sich – im zweiten Kreis – spezifische Ausprägungen.
  • Im dritten Kreis finden sich schließlich sehr feine Unterscheidungen von Emotionen, die uns helfen, präzise Formulierungen für unsere Empfindungen zu finden.

Umgekehrt funktioniert es übrigens auch: So lässt sich das Gefühl, schüchtern zu sein, in der Regel auf Unsicherheit zurückführen, die wiederum der Basisemotion Angst zugeordnet wird. Die Supermacht der Emotionen hat aber noch weitere Facetten, insbesondere im Hinblick auf das sensible Wahrnehmen und Erkennen.


🔎 Aus der Wissenschaft: Die Sprache/n der Gefühle

Die konkrete Benennung unserer Gefühle hat noch weitere Vorteile. Sprache bedeutet hier auch Identifikation: “man fühlt sich alleine” — man oder Du? Außerdem gibt es einen Unterschied, ob ich sage „Ich bin wütend“ oder „Ich verspüre Wut“. Im ersten Fall identifizieren wir unser ganzes Sein mit dem Gefühl, während wir im zweiten Fall eine temporäre Empfindung beschreiben (und nicht einen Teil von uns selbst).

Interessant ist, dass unsere Sprache tatsächlich helfen kann, ein besseres Verständnis für unsere Empfindungen zu kriegen. Eine wissenschaftliche Studie mit 2.474 Sprachen (!) hat gezeigt: je mehr Sprachen man spricht, desto mehr Empfindungen kann man spüren. Dazu die Autoren der Studie:

Viele menschliche Sprachen verfügen über ein reichhaltiges Vokabular, das sich mit der Kommunikation von Emotionen befasst. Obwohl nicht alle Wörter für Emotionen gebräuchlich sind – das deutsche Wort Sehnsucht bezieht sich auf einen starken Wunsch nach einem anderen Leben und hat keine direkte Übersetzung ins Englische – gibt es viele Wörter, die ähnliche emotionale Zustände in den gesprochenen Sprachen der Welt zu bezeichnen scheinen. Übersetzungswörterbücher legen zum Beispiel nahe, dass das englische Wort love mit dem türkischen Wort sevgi und dem ungarischen Wort szerelem gleichgesetzt werden kann. (eigene Übersetzung)


👉 Drei Schritte zum emotionalen Superhelden

Wie jede Kraft muss auch die Superkraft trainiert werden. Aber das ist viel einfacher, als die meisten von uns denken. Hier sind drei Tipps, um ein echter emotionaler Superheld zu werden.

1. Bewusst machen: Es gibt keine guten oder schlechten Gefühle.

Sie sind alle Teil unserer Erfahrung und haben ihre Berechtigung. Manche erinnern uns an freudige Erlebnisse wie Geburtstage oder Schulabschlüsse, andere an Sehnsucht oder Bedauern.

2. Wahrnehmen, nicht werten.

Je besser es uns gelingt, unsere Gefühle nicht zu bewerten, desto mehr Gelassenheit und Ruhe werden wir im Alltag erfahren. Die gewonnene Energie können wir dann viel besser für andere Dinge nutzen. Hilfreich für die Wahrnehmung ist unser Körper: Ein sensibles Achten auf seine Reaktionen kann uns gute Anhaltspunkte für Entscheidungen geben. Nicht umsonst sprechen wir oft vom „Bauchgefühl“.

3. Gefühle erkennen und benennen.

Unsere vielseitige Sprache und die damit verbundene Beschreibung von Gefühlen hilft uns, mehr Klarheit zu gewinnen. Das Rad der Gefühle kann dabei eine gute Hilfe sein. Je öfter wir es ausprobieren, desto besser werden wir darin.

Übung macht den Superhelden!

Leadership heute ist sinnlos – Welche Potenziale Führungskräfte oft genug übersehen

Das Gute im Sinn: Bedeutsamkeit bei der Arbeit

“Arbeit und Sinn – das hat nichts miteinander zu tun”, höre ich immer wieder von Führungskräften. Aber welche Rolle spielt das Thema Sinn im Zusammenhang mit Führung? Ich bin überzeugt: Sinn im Kontext von Führung spielt eine große Rolle. Und doch wird sie immer wieder unterschätzt.

Versteht man Sinn als die Verwirklichung von Werten oder als das, was das Leben lebenswert macht, dann darf er im Führungskontext nicht fehlen. Schließlich wollen die meisten von uns Sinn nicht nur privat, sondern (gerade) auch beruflich erleben. Ich behaupte sogar, dass gute Führung ohne Sinn gar nicht geht.

Doch was bedeutet Sinnorientierung im Arbeitsalltag ganz konkret? Welche Rahmenbedingungen können Führungspersonen schaffen, um das Sinnerleben von Mitarbeitenden zu fördern? Und welche Qualitäten sind dafür besonders wichtig?

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass große Themen wie Sinn und Werte auch Mut brauchen, um sie in Teams zu diskutieren. Ich weiß aber auch, dass es sich lohnt – wie in diesem Artikel nachzulesen ist.


Was bedeutet Führung vor dem Hintergrund der Sinnorientierung überhaupt?

Ausgehend vom Menschenbild Viktor Frankls ist es gerade im Zusammenhang mit Führung zunächst wichtig, den Menschen als entscheidendes und verantwortliches Wesen zu sehen. Das bedeutet, dass wir als Menschen grundsätzlich frei entscheiden und entsprechend handeln können. Natürlich haben wir nicht immer Einfluss auf das, was um uns herum geschieht. Aber Frankl hat immer wieder betont, dass wir selbst entscheiden können, wie wir auf Ereignisse reagieren.

Menschsein heißt bewusst-sein und verantwortlich-sein.

– Viktor Frankl

Sinnorientierung bedeutet auch, dem, was uns persönlich wertvoll und bedeutsam ist, besonder viel Raum zu geben. Gerade wenn das eigene Engagement dann zu etwas größerem Ganzen beiträgt, erleben wir tiefe Momente von Sinnerleben.

Für eine sinnorientierte Führung ist es deshalb zentral, den Mitarbeitenden ihre Verantwortung bewusst zu machen, ihnen Entscheidungsspielräume aufzuzeigen – und sie dann gewähren zu lassen. Sie erfahren eine Form von Selbstwirksamkeit, die sie wachsen und selbstbewusst werden lässt.

Dazu gehört auch ein klares Ja zu einer offenen Fehlerkultur, aus der alle lernen können. Und ein klares Nein zu kontrollierendem Mikromanagement. Sinnorientierte Führung heißt also zunächst, den Menschen als entscheidendes und verantwortliches Wesen anzuerkennen.

Darüber hinaus ist es wichtig, Bedeutsamkeit auf zwei Ebenen in den Blick zu nehmen. 

Einerseits geht es darum, im Dialog herauszukristallisieren, was dem Mitarbeitenden jeweils wichtig ist und welche Anknüpfungspunkte es im Arbeitsumfeld gibt. Andererseits ist es für die Führungskraft auch wichtig, die Bedeutung der jeweiligen Leistung für das Ganze klar zu kommunizieren, um das Sinnerleben des Mitarbeitenden zu fördern.


🔎 Aus der Wissenschaft: Welche Dimensionen prägen eine sinnvolle Arbeit?

Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen in eine ähnliche Richtung: Sinnvolle Arbeit trägt zum persönlichen und beruflichen Wohlbefinden bei. Die meisten Menschen streben nach mehr als nur einem Job, um Geld zu verdienen. Vielmehr sehnen wir uns nach einer Aufgabe, die uns erfüllt und Sinn bietet.

In der Studie Measuring Meaningful Work: The Work and Meaning Inventory (WAMI) haben die Autoren um Michael F. Steger drei relevante Dimensionen von sinnvoller Arbeit identifiziert:

  1. Positive Bedeutsamkeit: Menschen erleben ihre Arbeit als subjektiv bedeutsam.
  2. Sinnerleben in der Arbeit: Die Arbeit trägt dazu bei, Sinn im Alltag zu erleben.
  3. Gemeinwohlorientierung: Die Arbeit geht über das eigene Wohlbefinden hinaus und wirkt sich positiv auf andere aus.

Die Wissenschaftler betonen zudem den Zusammenhang zwischen Fehlzeiten und einer sinnvollen Arbeit.

In unseren Daten stand die Fehlzeitenquote nicht im Zusammenhang damit, ob die Mitarbeiter mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden waren oder nicht. Sie stand auch nicht im Zusammenhang damit, wie sehr sie sich ihrem Unternehmen verpflichtet fühlten. Es gab nicht einmal einen Zusammenhang mit der Absicht, den Arbeitgeber zu verlassen. Stattdessen deuten unsere Analysen darauf hin, dass die Menschen sich von einer Arbeit abwenden, die für sie keinen Sinn hat.

– Michael F. Steger et al. (eigene Übersetzung)

Welche Bedeutung hat Sinn im Führungskontext? Eine große, und wird dennoch oft unterschätzt. Image: Anastasia Shuraeva.


🧭 Aus der Logotherapie: Wie kann Sinnorientierung im Führungskontext gelingen?

Viele mögen sich fragen (und ich mich oft), was Sinn mit Führung zu tun hat. Das ist verständlich, denn die sogenannte Logotherapie & Existenzanalyse nach Frankl wird auch als sinnzentrierte Psychotherapie bezeichnet und hat auf den ersten Blick nichts mit Führung zu tun.

Dennoch lassen sich viele Grundlagen, wie das oben erwähnte Menschenbild, sehr gut auf den Arbeitskontext übertragen. Dies zeigte auch Walter Böckmann, ein Schüler Frankls, der durch seinen Ausspruch und das gleichnamige Buch “Wer Leistung fordert, muss Sinn bieten” bekannt wurde. Er zeigt auf, dass Werte Möglichkeiten der Sinnerfüllung im beruflichen Kontext sind.

Wie aber können die logotherapeutischen Grundlagen rund um Sinn nun übertragen werden?

  1. Sinn ist immer individuell und kann nicht von außen „verordnet“, sondern nur selbst entdeckt (und schließlich umgesetzt) werden. Deshalb ist es für Führungskräfte wichtig, die Eigenverantwortung im Team zu fördern. Das bedeutet auch, Mitarbeitende im Rahmen ihrer Möglichkeiten einfach mal machen zu lassen, ihnen Entscheidungsfreiräume zu geben und sie zu ermutigen, ihre Gestaltungsspielräume selbstbewusst zu nutzen – auch mit dem Risiko, dass mal etwas daneben gehen kann. Aber wer hat nicht schon aus Fehlern gelernt?
  2. Sinn bezieht sich immer auf diesen einen, einzigartigen Moment. Das bedeutet nicht, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden nicht mit der Gesamtvision des Unternehmens abholen sollten. Es bedeutet aber, dass sie ebenso beweglich sein sollten (äußerlich und innerlich), sich auf vielleicht unerwartete Ereignisse einzustellen, die Situation neu zu bewerten und dann entsprechend zu handeln. Wer von uns hätte eine Pandemie und ihre (wirtschaftlichen und sozialen) Folgen vorhersehen können?
  3. Sinn wird vor allem dann verwirklicht, wenn man sich für etwas einsetzt, das über einen selbst hinausgeht. Für Führungskräfte ist es deshalb wichtig, den Mitarbeitenden immer wieder den größeren Zusammenhang zu erklären. Im Team oder in Einzelgesprächen können sie gemeinsam die Frage reflektieren: „Wofür ist es wichtig und relevant, dass du jetzt diesen einen Teil beiträgst?“

All diese Punkte gelten übrigens auch für die Führungskraft selbst, Stichwort Selbstführung: Was bewegt mich selbst und wofür will ich mich einsetzen? Welchen „Sinnanruf“ habe ich gerade, wie reagiere ich hier und jetzt darauf? Welche (neue) Entscheidung muss ich treffen, weil sich die (äußeren) Umstände verändert haben? Und auch: Welchen Beitrag leiste ich, der über mich und meine Person hinausgeht?

Wir können zusammenfassen: Sinnorientierte Führung bedeutet, Menschen als entscheidende und verantwortliche Akteure anzuerkennen und ihnen Räume für die eigene Sinnerfüllung zu eröffnen.


Für die Praxis: Welche Rahmenbedingungen können Führungskräfte schaffen, um Sinnerleben zu fördern?

Wenn es darum geht, Sinnorientierung in den Führungskontext zu integrieren, bedeutet dies auch, die Mitarbeitenden neben ihrer spezifischen Rolle vor allem als Menschen mit all ihren einzigartigen Seiten, Fähigkeiten und Potenzialen anzuerkennen.

In der Logotherapie gibt es den Grundsatz, dass jeder Mensch einzigartig und unverwechselbar ist. Und das ist ein Mensch auch, wenn er seine berufliche Tätigkeit ausübt. Dies gilt es nicht nur zu berücksichtigen, sondern daraus einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen. Doch wie kann ein Mehrwert entstehen, wenn Sinnerleben etwas Individuelles ist?

Die zentrale Aufgabe für Führungskräfte lautet: Möglichkeiten schaffen, um Sinn zu verwirklichen!

Das bedeutet einerseits, von und mit dem Mitarbeitenden lernen, welche Werte zentral für ihn/sie sind. Was ist es, was diesen Menschen berührt, aufregt, begeistert oder frustriert? All diese Empfindungen können gute Hinweise auf die Werte dieser Person geben. Diese Werte und das damit verbundene agile Mindset können auch als „agiles Sein“, also als innere Haltung verstanden werden (siehe dazu auch Wege agiler Führung – mit Sinn).

Zum anderen ist es Aufgabe der Führungskraft, Räume zu schaffen, um diese zu realisieren. Dazu gehören zeitliche und auch finanzielle Ressourcen ebenso wie aktuelle und qualitativ hochwertige Tools. Es braucht also auch die äußere Komponente, das agile Tun“, um das Sinnerleben im Team zu steigern.

Doch wie kann es gelingen, mehr über die Werte der Mitarbeitenden zu erfahren, um sie zu fördern?

Zwei Qualitäten sind zentral: fragen und zuhören.

Ein Erkenntnisgewinn durch fragen geht schon auf Sokrates zurück. Wir kennen den sokratischen Dialog als „Gesprächsführung“, bei der der Lernende durch Fragen selbst zur Erkenntnis gelangt. Eine Faustregel: Führungskräfte sollten mehr Fragen stellen als Antworten geben.

“Empathie und aktives Zuhören” gehört zu den Top Ten der Fähigkeiten, die Führungskräfte des Weltwirtschaftsforums für die Zukunft als zentral erachten – und wird weithin unterschätzt.

Die Autorin Nancy Kline spricht von der Schaffung so genannter „Thinking Environments“, Denkumgebungen, in denen die Teammitglieder Zeit und Raum haben, ihre eigenen Gedanken und Ideen neu zu entwickeln. Es ist erstaunlich, welche Prozesse in Gang gesetzt werden können, wenn man jemandem wirklich Zeit und Raum gibt – indem man zuhört, um zu verstehen, und nicht, um zu reagieren.

Drei gute Fragen, mit denen Führungskräfte einen Dialog beginnen können (Nancy Kline, Time to Think; eigene Übersetzung):

  1. Was läuft gut in Ihrer Arbeit oder in Ihrem Leben?
  2. Welche Erfolge haben Sie erreicht, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben?
  3. Was läuft Ihrer Meinung nach gut in unserem Projekt?

Leadership in Zukunft? Sinnvoll!

Sinn und Leadership passen besser zusammen, als man denkt. Sinnorientierung im Führungskontext bedeutet, den Menschen als verantwortlichen Akteur wahrzunehmen und ihm Räume zur individuellen Sinnverwirklichung zu eröffnen.

Für Führungskräfte ist es daher wichtig, im Dialog mit den Mitarbeitenden herauszufinden, welche Werte sie haben und welche Rolle diese im organisationalen Kontext spielen können. Hilfreich ist es auch, Agilität als innere und äußere Qualität zu verstehen (agile being und agile doing), denn das eine bedingt das andere. Und schließlich kann die Sinnhaftigkeit im Alltag vor allem dann gefördert werden, wenn der Beitrag zu einem größeren Ganzen in den Fokus gerückt wird.

Es liegt an uns, Leadership neu zu definieren und durch sinnorientierte Ansätze eine tiefere Verbindung und Erfüllung im Berufsleben zu schaffen – für uns selbst und unsere Teams!

Summer Sadness – Und was mir noch nie dabei geholfen hat

Ein Paradox, mindestens drei Erklärungen: von Japan bis Literatur

Es passiert mir jedes Mal. Mit Ansage. Ohne Halt. Spätestens am Tag vor der Abreise.

Manchmal mit einem grumpy mood, manchmal mit ein paar Tränen. Immer mit einem schweren Herzen: die Summer Sadness. So auch dieses Mal, auf dem Rückweg von Skandinavien, nach zwei Wochen Urlaub mit Midsommar-Magie.

Immer, wenn sich eine solche Auszeit dem Ende nähert, werde ich melancholisch. Ich bin traurig, dass die besondere Zeit vorbei ist.

Rationale Geister sagen, man solle sich doch lieber über das freuen, was man erlebt hat, anstatt ihm hinterherzutrauern. Stimmt vielleicht, klappt aber nur bedingt. Dieser Rat ist kognitiv nachvollziehbar, hat mir aber noch nie geholfen.

Dass ich nicht die einzige bin, der es so geht, wird an der Vielfalt der Begrifflichkeiten deutlich, die diese sonderbare Art der Traurigkeit beschreiben.

  • In Japan hat das Phänomen dieser Vergänglichkeit einen eigenen Begriff: mono no aware.
  • Der Autor Benedict Wells hat eine neue Wortkreation dafür geschaffen: Euphancholie.
  • Und die Amerikanerin Susan Cain hat dem Thema gar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet.

Enjoy the sadness!


🔎 Aus der Praxis: japanische Wehmut

Was bedeutet mono no aware?

Mono no aware ist eine japanische Redewendung für das Bewusstsein der Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit der Dinge.

Sie beschreibt einerseits eine vorübergehende sanfte Traurigkeit (oder Wehmut). Andererseits bezeichnet sie auch eine längere, tiefere sanfte Traurigkeit darüber, dass dieser Zustand die Realität des Lebens ist.

Es geht um die Vergänglichkeit der Schönheit, das leise, beschwingte, bittersüße Gefühl, Zeuge des schillernden Zirkus des Lebens gewesen zu sein – in dem Wissen, dass nichts davon von Dauer sein kann.

Die Ästhetik [von mono no aware] liegt in der leisen Freude, die unweigerlich mit der Traurigkeit verbunden ist: die Freude, dass wir die Schönheit eines Menschen oder einer Sache erleben durften, sei sie auch noch so kurzlebig gewesen. – Yasemin Besir, Japan Digest

Wann und wie zeigt sich mono no aware?

Ein besonders prägnantes Beispiel aus Japan ist die Zeit der Kirschblüte: wunderschön, in voller Pracht, Ausdruck der lebendigen Natur. Und gleichzeitig so vergänglich, eben weil die Natur in Kreisläufen existiert und bald alles verblüht sein wird.

Bei unserem Aufenthalt in Schweden war es das besondere Licht und die magische Atmosphäre der langen Tage rund um Midsommar. Das Erlebnis der Feierlichkeiten in “unserem” Dorf haben nur noch einen drauf – wohlwissend, dass jedes Lied und jeder Tanz einmalig in diesem Moment sein würden.


💬 On words

In dem bewegenden Coming-of-Age-Roman Hard Land wird das Gefühl zwischen Berührung, Hingabe einerseits und Wehmut und Trauer andererseits mit einer neuen Wortkreation beschrieben:

So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird. Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt. – Benedict Wells, Hard Land

Der Autor Benedict Wells erklärt seine Wortschöpfung so (und ja, es gibt tatsächlich eine Baseball-Cap mit der Aufschrift Euphancolie..):

Das Wort ist eine Mischung aus ›Euphorie‹ und ›Melancholie‹. Einerseits ist man fast zerrissen vor Glück, aber auch wehmütig, weil der Moment bald vorbeigehen wird; man vermisst ihn schon jetzt.

Generell habe ich es als Jugendlicher oft selbst erlebt, dass man selbst nach schlimmsten Erfahrungen plötzlich in ausgelassenes Gelächter ausbrechen konnte – und umgekehrt. Dieses schnelle, manchmal völlig unlogische Umschlagen der Emotionen hat mich immer fasziniert, alles geschah gleichzeitig. Oder um es mit einem 80s-Song zu sagen: Dancing With Tears In My Eyes.

Wer richtig eintauchen will, dem sei die gleichnamige Playlist Euphancholie von Benedict Wells empfohlen.


 


🔎 Aus der Forschung: Bittersweetness

Die amerikanische Autorin Susan Cain hat dem paradoxen Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet – How Sorrow And Longing Make Us Whole. Sie schreibt dazu:

If you’ve ever wondered why you like sad music …

If you find comfort or inspiration in a rainy day …

If you react intensely to music, art, nature, and beauty …

Then you probably identify with the bittersweet state of mind.

Wozu dient Bittersweetness überhaupt?

Susan Cain beschreibt die Frage nach dem bittersüßen erleben (jeweils eigene Übersetzung aus dem Englischen):

Philosophen nennen dies das „Paradoxon der Tragödie“ und rätseln seit Jahrhunderten darüber. Warum freuen wir uns manchmal über den Kummer, während wir den Rest der Zeit alles tun, um ihn zu vermeiden? Jetzt beschäftigen sich auch Psychologen und Neurowissenschaftler mit dieser Frage und haben verschiedene Theorien aufgestellt:

Eine Mondscheinsonate kann für Menschen, die einen Verlust oder eine Depression erleben, therapeutisch sein; sie kann uns helfen, negative Gefühle zu akzeptieren, anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen; sie kann uns zeigen, dass wir mit unseren Sorgen nicht allein sind.

Wir mögen zum Beispiel keine Listen mit traurigen Wörtern oder Diashows mit traurigen Gesichtern (dies haben Forscher tatsächlich getestet). Was wir lieben, sind elegische Gedichte, nebelumhüllte Küstenstädte, Türme, die durch die Wolken ragen. Mit anderen Worten: Wir mögen Kunstformen, die unsere Sehnsucht nach Vereinigung und nach einer perfekteren und schöneren Welt ausdrücken.

Traurige Musik und melancholische Poesie – jetzt echt?

Kürzlich haben die Neurowissenschaftler Matthew Sachs und Antonio Damasio zusammen mit der Psychologin Assal Habibi die gesamte Forschungsliteratur über traurige Musik ausgewertet. In ihrem Artikel The Pleasures of Sad Music haben sie festgestellt, dass sehnsuchtsvolle Melodien unserem Körper helfen, eine Homöostase zu erreichen – einen Zustand, in dem unsere Emotionen und unsere Physiologie innerhalb eines optimalen Bereichs funktionieren.

Sie liefern Antworten auf die Frage, wie es sein kann, dass das menschliche Überleben von der Vermeidung (!) schmerzhafter Erfahrungen abhängt, der seelische Schmerz aber oft ausdrücklich in der Musik gesucht wird. Es scheint mindestens drei Erklärungen zu geben.

Traurigkeit, die durch Musik hervorgerufen wird, wird als angenehm empfunden:

  1. wenn sie als nicht bedrohlich wahrgenommen wird;
  2. wenn sie ästhetisch ansprechend ist; und
  3. wenn sie psychologische Vorteile wie Stimmungsregulierung und empathische Gefühle hervorruft, z. B. durch die Erinnerung an und das Nachdenken über vergangene Ereignisse.

Vielleicht ist das dein Call, doch mal in die euphancholische Playlist von Benedict Wells einzutauchen…?

In wie fern hat das Bittersüße auch etwas Wertvolles?

Schließlich erinnert uns (mich zumindest), dass dieser euphancholische Zustand auch sein Gutes hat:

Erinnerst du dich an die sprachlichen Ursprünge des Wortes Sehnsucht: Der Ort, an dem du leidest, ist der Ort, an dem du dich sorgst. Du leidest, weil du dich sorgst. Deshalb ist die beste Reaktion auf Schmerz, tiefer in die Sorge einzutauchen.

Es ist oft dort, wo wir den größten Schmerz empfinden, dass unsere Werte besonders sichtbar werden. Das, was uns viel bedeutet, wird verletzt.

In diesem Sinne: never stop yearning, never stop caring.