Selbstverwirklichung? Ist nicht das Ziel!

Selbstverwirklichung… Klingt verlockend, nicht wahr?

Ein kleines Stück Erleuchtung hier, ein bisschen Persönlichkeitsentwicklung da, und voilà – du bist die beste Version deiner selbst!

Doch halt mal kurz: Vielleicht ist diese ewige Jagd nach „Selbstverwirklichung“ ja gar nicht das Ziel. Viktor Frankl, Psychiater und Holocaust-Überlebender, hätte darüber wohl nur müde gelächelt. In einem seiner letzten Interviews schüttelte er den Kopf über den Selbstoptimierungswahn (auch wenn er das damals nicht so genannte hätte).

Frankl sagt: „Es geht um mehr.“

Mehr als nur das Streben nach der perfekten Version von dir selbst. Mehr als noch höher, schneller, weiter. Aber um was genau geht’s dann?

Die kurze Antwort: Werteverwirklichung.

Die lange Antwort: findest du unten stehend. Den Link zum Interview (Video) auch.


Im Fokus: der Wille zum Sinn

Die Logotherapie, als eine unter anderen Psychotherapien, ist sozusagen eine „sinnzentrierte“ Psychotherapie, und zwar insofern, als die Logotherapie den Menschen nicht in erster Linie als vom Willen zum Vergnügen bestimmt, um nicht zu sagen dominiert, sieht, auch nicht vom Willen zur Macht im Sinne der Adlerschen Lehre, sondern grundsätzlich vom Willen zum Sinn. – Viktor Frankl


Was motiviert uns wirklich? Frankls überraschende Antworten

Der Wille nach Sinn ist grundlegend

Viktor Frankl betont, dass das Streben nach Sinn die primäre Motivation des Menschen ist. Sinn im Leben zu haben trägt wesentlich zum Überleben und zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Selbstverwirklichung ist nur ein „Nebenprodukt“, niemals das Ziel.

Drei Kategorien von Werten als Quellen für Sinn

Werte sind Möglichkeiten zur Sinnverwirklichung. Frankl kategorisiert hierbei drei Arten von Werten: schöpferische Werte, bei denen es darum geht, im Tun einen Sinn zu erleben; Erlebniswerte, bei denen das Erleben von etwas oder jemandem Sinn geben kann; und Einstellungswerte, die sich auf die Wahl der eigenen Reaktion auf Leiden konzentrieren.

Zentral dabei ist, dass wir Menschen uns nie nur auf einen einzelnen Wert fokussieren sollten (logotherapeutisch spricht man hier von pyramidaler Werteorientierung). Vielmehr sollten wir danach streben, verschiedene Werte in unserem Leben zu kultivieren (logotherapeutisch: paralelle Werteorientierung). Wenn dann mal ein Wert, also eine Quelle von Sinn, wegfällt, haben wir immer noch andere Säulen im Leben, auf die wir bauen können.

Die Macht der Einstellung und Entscheidung

Frankl betont die Bedeutung der Wahl der eigenen Einstellung, insbesondere in herausfordernden Situationen. Er weist darauf hin, dass der Einzelne auch dann, wenn er mit Leid oder Tod konfrontiert wird, entscheiden kann, wie er reagiert und in seiner Herangehensweise an die Umstände, denen er begegnet, einen Sinn finden kann. Wir können nicht immer die äußeren Umstände beeinflussen, aber wir haben immer die geistige Freiheit, uns zu ihnen einzustellen.

Logotherapie als sinnzentrierte Psychotherapie

In dem Interview stellt Frankl die Logotherapie als einen psychotherapeutischen Ansatz vor, der einen starken Fokus auf die Entdeckung und Erfüllung des Sinns im Leben legt. Sie steht im Gegensatz zu deterministischen und instinktgetriebenen Theorien, indem sie den Willen zum Sinn als Kernmotivation des Menschen hervorhebt. Im Kern steht das Menschenbild, das eine Person als frei und verantwortlich ansieht.

Innere Leere als Ausdruck von Sinnlosigkeit

Immer wieder erleben Menschen eine starke innere Leere, die mit Apathie, Langeweile und Interessenverlust einhergeht. Anstatt einen Wettbewerb zu entfachen, wem es schlechter geht, ruft Frankl dazu auf, Mitgefühl für diejenigen aufzubringen, denen es nicht gut geht und sie zu unterstützen


Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen


Wie Viktor Frankls Sicht auf Sinn und Selbstverwirklichung unser Weltbild verändern kann

Zu Beginn dieses Interviews fragt der Moderator Viktor Frankl nach einem Zitat von Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“. Es gilt als einer der wichtigen Leitsatz des österreichschen Psychiaters und Holocaust-Überlebenden. Frankl erklärt, dass es überlebenswichtig sei, einen Sinn im Leben zu haben. Er ist überzeugt davon, dass der Wille zum Sinn die primäre Motivation des Menschen ist, ganz im Gegensatz zu deterministischen und instinktgetriebenen Theorien.

Frankl stellt die Logotherapie als einen psychotherapeutischen Ansatz vor, bei dem die Suche nach Sinn im Mittelpunkt steht. Selbstverwirklichung ist nur ein Nebenprodukt, niemals das Ziel.

Die Diskussion zwischen Frankl und dem Moderator verlagert sich auf die Erfahrung der inneren Leere und die Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Studierenden. Unabhängig davon, wer nun schwerer betroffen sei, betont Frankl die Bedeutung von Mitgefühl und der Unterstützung derjenigen, denen der Sinn für Sinn fehlt. Es gehe nicht darum, einen Wettbewerb zu entfachen, wem es schlechter geht, sondern darum, für Unterstützung zu sorgen.

(…) der Mann auf der Straße oder die Frau auf der Straße kann Tag für Tag einen Sinn darin finden, eine Tat zu vollbringen, ein Werk zu schaffen und – das ist das Kreative – kreativ zu sein und etwas zu erleben. Die Schönheit. Die Wahrheit als Forscher, oder das Gute im Umgang mit Menschen als Lehrer oder was auch immer. – Viktor Frankl

Zentral im Ansatz der Logotherapie sind Werte als Möglichkeiten zur Sinnverwirklichung. Frankl kategorisiert Werte in drei Arten: schöpferische, Erlebnis- und Einstellungswerte. Die schöpferischen Werte beziehen sich auf das aktive Tun einer Person, bspw. bei einem Projekt auf der Arbeit. Bei den Erfahrungswerten geht es darum, einen Sinn darin zu finden, etwas oder jemanden zu erleben, etwa einen Sonnenuntergang zu genießen oder die Einzigartigkeit eines Individuums zu erkennen. Einstellungswerte konzentrieren sich auf die Wahl der eigenen Reaktion auf Leiden – und zwar immer dann, wenn die Verwirklichung von schöpferischen und Erlebniswerten nicht (mehr) möglich ist.

Frankl erzählt von seinen Erlebnissen in einem der vier Konzentrationslager, die er überlebte, wo er und andere Gefangenen Trost in der Schönheit eines Sonnenuntergangs fanden. Er stellt fest, dass man selbst im Angesicht des Todes seine Haltung bewusst wählen und einen Sinn finden kann. Frankl schließt mit der Erklärung, dass die Vergangenheit eine Bedeutung hat, da alles, was man getan oder erlebt hat, ob positiv oder negativ, für immer erhalten bleibt und nicht rückgängig gemacht werden kann. Die Vergangenheit ist wie eine große Scheune, in der alle Handlungen eines Menschen gespeichert sind, sie sind unumkehrbar geschehen.

Dies ist ein Paradigma für Erfahrungswerte, für die Suche nach einem Sinn im Erleben, ohne etwas zu tun, ohne etwas zu erreichen oder zu vollbringen, sondern einfach dadurch, dass man die unmittelbare Erfahrung macht, dass etwas Schönes in der Welt vor sich geht. – Viktor Frankl


Sinn statt Selbstverwirklichung: Wie die drei Wertekategorien unser Leben bereichern

Es ist verlockend, Selbstverwirklichung als das ultimative Ziel zu betrachten, doch Viktor Frankl zeigt uns, dass es sich lohnen kann, die Suche nach Sinn auf andere Weise zu gestalten.

Ein effektiver Ansatz ist es, sich auf die Verwirklichung der drei Wertekategorien zu konzentrieren, die Frankl beschreibt: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte.

  1. Kreative Auszeiten planen ist eine hervorragende Möglichkeit, schöpferische Werte zu leben. Wenn wir regelmäßig Zeit für kreative Projekte oder Hobbys einplanen, erleben wir direkte Erfüllung und Sinn durch unser Tun. Diese Momente der Kreativität bieten uns nicht nur eine Flucht aus dem Alltag, sondern auch eine tiefere Verbindung zu unseren eigenen Werten und Fähigkeiten.
  2. Erlebniswerte verwirklichen bedeutet, bewusst Zeit für die Erlebnisse einzuplanen, die uns Freude und Staunen bringen. Ob ein entspannender Spaziergang in der Natur, ein Besuch im Museum oder ein geselliges Treffen mit Freunden – solche Erlebnisse bereichern unser Leben und stärken unsere Fähigkeit, die Schönheit und Tiefe des Moments zu erleben.
  3. Schließlich können wir durch die sinnvolle Reaktion auf Herausforderungen die Einstellungswerte verwirklichen. In schwierigen Situationen bewusst eine positive Haltung zu wählen und nach einem Lern- oder Wachstumspotenzial zu suchen, ermöglicht es uns, auch in widrigen Umständen einen Sinn zu finden. Die Frage Wozu? (im Gegensatz zu Warum?) kann hier Wunder wirken.

Wann startest du durch?

Mit welchen Werten fängst du an?

What the f*ck? Warum uns fragen hilft. Und fluchen auch.

Er kommt unscheinbar daher, der kleine Kringel über dem Punkt. Es kann Sätze verändern, aber auch Beziehungen oder das alltägliche Miteinander.

Das Fragezeichen ist vielleicht eines der mächtigsten Satzzeichen (wenn es so etwas überhaupt gibt), weil es Fragen ihren Charakter verleiht. Und Fragen können herausfordern, neue Einsichten generieren, Beziehungen (weiter-)entwickeln. Sie können vermeintlich klein und dann wieder groß sein, den Alltag umspannen und den Ursprung des Universums in Frage stellen.

Fragen sind mächtig. Wenn wir fragen, sind wir es auch, zumindest ein bisschen. Nicht umsonst heißt es oft: “Wer fragt, führt”.

Aber was für Fragen gibt es überhaupt (keine Angst, das wird keine Abhandlung über die deutsche Grammatik)? Wem sollen wir Fragen stellen? Und welche Bedeutung können Fragen haben?

Übrigens: kürzlich wurde ich von Magazin “Ethik Heute” zum Thema Weisheit befragt (wie auch drei andere Personen). Unter anderem dazu, wie wir uns der Weisheit im Alltag annähern können. Die Antworten findest du hier.


Fragen für Lebensführung – Allgemeine und ganz persönliche

Fragen können uns helfen, Entscheidungen im Leben zu treffen. Sie können uns helfen, unseren Alltag so zu gestalten, dass unsere Werte verwirklicht werden und wir Sinn erfahren.

Es gibt allgemeine Fragen, die sich im Prinzip jeder Mensch stellen kann.

Drei meiner Lieblingsfragen sind

  1. Was würdest du tun, wenn es einfach wäre? (großartige Frage von Tim Ferris, im Original: what would it look like if it were easy?)
  2. Wenn du es niemandem zeigen und niemandem davon erzählen könntest, würdest du es trotzdem tun?
  3. Was würdest du tun, wenn Geld keine Rolle spielen würde?

Dann gibt es spezifische Fragen, die (primär) nur für uns selbst relevant sind.

Richard Feynman, Physiker und Nobelpreisträger 1965, wurde und wird oft als Genie bezeichnet. Seinen Erfolg führte er darauf zurück, dass er seine Forschung und damit auch sein Leben auf bestimmte Fragen ausrichtete. Er machte es sich zur Gewohnheit, seine “12 Lieblingsprobleme” (engl. twelve favorite problems) aufzuschreiben und regelmäßig zu überprüfen.

Sie müssen ein Dutzend Ihrer Lieblingsprobleme ständig im Kopf behalten, auch wenn sie im Großen und Ganzen in einem schlafenden Zustand liegen werden. Jedes Mal, wenn Sie einen neuen Trick oder ein neues Ergebnis hören oder lesen, testen Sie es an jedem Ihrer zwölf Probleme, um zu sehen, ob es hilft. Hin und wieder wird es einen Treffer geben, und die Leute werden sagen: „Wie hat er das gemacht? Er muss ein Genie sein! (freie Übersetzung aus dem Englischen)

Mein Tipp: fang’ an und schreibe deine “Lieblingsprobleme” runter.

Du kommst nicht direkt auf 12? Auch okay, es bleibt genug zu tun, wenn du mit den ersten drei oder sechs startest…


Fragen für Erkenntnisgewinn: Was denkst du?

Fragen beschäftigen uns aber nicht erst seit der Neuzeit. Ganz im Gegenteil: Eine besondere Art der Gesprächsführung mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns basiert ganz auf Fragen. Die Rede ist vom Sokratischen Dialog.

Statt seinen Schülern “klassisch” Wissen durch Frontbeschallung zu vermitteln, stellte Sokrates ihnen viele Fragen, um den persönlichen Erkenntnisgewinn zu fördern.

In ihrem Buch Management by Sokrates haben die Autoren Wisniewski und Niehaus (2016) sieben Fragetypen dargestellt (S. 93 ff.). Ich habe sie hier einmal in meinen Worten zusammengefasst und Beispielfragen zum Thema (Selbst-)Führung gegeben.

1. Bedeutungsfragen

Die Fragen nach dem „Was“ zielen darauf ab, das Wesen und die Bedeutung einer Sache zu hinterfragen. Sie helfen, den Kern und die grundlegenden Prinzipien eines Themas zu erfassen. Beispiele jeweils nachfolgend.

  • Was ist gute Führung?
  • Was sind Beispiele für gute Selbstführung?
  • Was ist die gesellschaftliche Verantwortung der Organisation?

2. Konkretisierungsfragen

Konkretisierungsfragen dienen dazu, allgemeine Aussagen in spezifische, erlebte Situationen zu übersetzen und so Klarheit zu schaffen.

  • Was genau haben Sie erlebt, als Sie das Gefühl hatten, Ihre Selbstführung zu optimieren?
  • Warum ist dies ein gutes Beispiel für die aktuelle Herausforderung im Team?
  • Können Sie diese Überlegung näher beschreiben?

3. Unterscheidungsfragen

Diese Fragen klären Unterschiede in Wahrnehmungen und Bewertungen, um Nuancen und Details sichtbar zu machen.

  • Worin unterscheidet sich Ihr Führungsstil von dem Ihrer Kollegen?
  • Besteht diese Schwierigkeit immer oder gibt es Ausnahmen?
  • Gibt es Situationen, in denen Ihre Selbstführung weniger effizient ist? Wenn ja, welche?

4. Hypothetische Fragen

Hypothetische Fragen eröffnen neue Perspektiven und ermöglichen das Denken in alternativen Szenarien. Im Coachingkontext werden sie auch oft als „Wunderfrage“ bezeichnet.

  • Stellen Sie sich vor, in einem Jahr haben Sie alle Ihre persönlichen Entwicklungsziele erreicht, wie sieht Ihr Alltag dann aus?
  • Angenommen, eine Wunschfee würde Ihnen drei Wünsche erfüllen, welche wären das?
  • Angenommen, Sie sind ab morgen Firmeninhaberin. Was würde sich verändern?

5. Fragen zweiter Ordnung

Diese Fragen beziehen sich auf komplexe Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren. Sie reflektieren Selbst- und Fremdwahrnehmung und die entsprechenden Zuschreibungen.

  • Was glauben Sie, würde Frau X zu diesem Problem sagen?
  • Wie würde ein Außenstehender über Ihre Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Führungsperson sagen?
  • Wenn Herr Y hier wäre, was würde er uns bezüglich der bevorstehenden Neustrukturierung raten?

6. Ziel- und lösungsorientierte Fragen

Diese Fragen fokussieren sich auf Ziele und Lösungen und helfen, den Handlungsspielraum zu erkunden, in dem sie neue Handlungsalternativen und andere Denkweisen fördern.

  • Welche Schritte sind zur Zielerreichung notwendig?
  • Woran werden Sie im Arbeitsalltag merken, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?
  • Was möchten Sie konkret durch Ihre werteorientierte Führung erreichen?

7. Paradoxe Fragen

Paradoxe Fragen provozieren durch Überzeichnung und Zuspitzung und können so neue Erkenntnisse und Handlungsweisen stimulieren. Sie wirken durch die Kontrastierung eines Sachverhaltes bzw. zur Reflexion der „anderen“ Seite.

  • Was können Sie tun, um sicherzustellen, dass Ihre Führung als völlig wertlos wahrgenommen wird?
  • Was müssten Sie tun, damit Ihre Bemühungen zur Selbstführung garantiert scheitern?
  • Wie könnten Sie Ihre Führung so gestalten, dass Ihre Mitarbeiter absolut unmotiviert wären?

What the f*ck? Fragen als Superpower | MEANING + More

What the f*ck? Fragen als Superpower | MEANING + More


Fragen zur Reflexion: Going Deep

Schließlich gibt es Fragen, die wir uns selbst (oder unseren Freunden) stellen können, bei denen es mehr um das Nachdenken als um eine einzige Erkenntnis geht.

Von diesen Fragen gibt es mindestens so viele, wie es Menschen auf der Welt gibt.

Zu Beginn der Pandemie hat die Bewegung “This Human Moment” nicht nur schöne Fragen aus der Poesie zusammengetragen, sondern auch eine Liste mit 53 Beautiful Questions for this Moment zusammengestellt.

Meine Favoriten aus dieser Liste?

  • Welche Frage sind wir jetzt bereit zu stellen, die wir vorher nicht gestellt haben? (engl.: What question are we now willing to ask that we weren’t before?)
  • Was sagt mir mein Körper? (engl.: What is my body telling me?)
  • Wer werde ich, während ich tue, was ich tue? (engl.: Who am I becoming while I’m doing what I’m doing?)

And you, when will you begin that long journey into yourself? – Rumi


Fragen und Fluchen: Mehr Support geht nicht

Die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen, scheint eine Superkraft zu sein. Sie kann uns zu mehr Klarheit, neuen Einsichten oder anderen Perspektiven verhelfen.

Fragen können uns in unserem Alltag in mindestens drei Aspekten unterstützen.

  1. Fragen können uns helfen, unseren Alltag nach bestimmten Werten auszurichten oder bessere Entscheidungen zu treffen.
  2. Fragen können uns auch helfen, Einsichten zu gewinnen oder eine neue Perspektive einzunehmen.
  3. Fragen können Reflexionsprozesse in Gang setzen, gemeinsam oder mit Freunden (bye bye Small Talk, hello Deep Talk!).

Und dann gibt es Fragen, die einfach nur ein impulsiver Ausruf sind, wie “What the f*ck?” oder “Was zum Teufel…?”. Wer glaubt, dass es sich dabei um unhöfliches Verhalten handelt, wird von der Wissenschaft eines Besseren belehrt.

Eine Studie mit über 250 Teilnehmenden konnte zeigen, dass Fluchen helfen kann, Stress abzubauen und sogar Symptome von Angst und Depressionen zu lindern.

Also: Worauf wartest du noch? Fang an zu fragen (und/oder zu fluchen..)!

Was die Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben – und was uns trennt

Die Frage “Arbeitest du mit der zusammen?” erreichte mich vor einer Woche per WhatsApp. Verlinkt war ein Instagram-Post von Influencerin Laura Seiler, der die Grafik eines Abreißzettels zeigte: „Nimm, was du brauchst“.

Warum die Frage nach einer Kooperation?

Vermutlich, weil ich selbst gut zwei Wochen vorher über meinen Account @meaningandmore ein Foto des Abreißzettels geteilt hatte, den ich mit eigenen Illustrationen und kleinen Übungen für Pausen im Alltag gestaltet hatte. Der Titel? Nimm’ dir, was du brauchst.

Die kurze Antwort: Nein, wir arbeiten nicht zusammen.

Wie es zu dieser frappierenden Ähnlichkeit der beiden Posts kommt, kann ich mir nicht erklären. Laura übrigens auch nicht: Auf meine direkte Frage, die nur in den Kommentaren stellen konnte, bekam ich zwar ein Like-Herzchen, aber keine Antwort.

Ein Schelm, wer denkt, dass Lauras Post eine bewusste Kopie meiner Arbeit sein könnte (gleichwohl das Thema Plagiate bei Social Media Content groß zu sein scheint)!

Die längere Antwort: folgt in diesem Newsletter.

Uns beide verbindet vieles in unserer Arbeit. Und mehr Sachen trennen uns. Nehmen wir die beiden Instagram-Posts als Beispiel, um einige Dinge zu verdeutlichen.


Für mehr Unterstützung durch innere Arbeit

Nach allem, was ich gesehen und gelesen habe, haben Laura und ich gemeinsam, dass wir mit unserer Arbeit Menschen helfen und Gutes tun wollen.

Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen möchten wir andere auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil und mehr Wohlbefinden durch innere Arbeit unterstützen.

  • Einerseits wollen wir Menschen ermutigen, sich auch herausfordernden Themen zuzuwenden, denn wir sind überzeugt, dass wir viele Ressourcen in uns tragen. Je klarer wir unsere eigenen Prägungen, Glaubenssätze und Muster erkennen, desto besser können wir mit ihnen arbeiten oder sie überwinden.
  • Andererseits wollen Laura und ich beide Wege aufzeigen und konkrete Hilfestellungen geben, um Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Das können bspw. Übungen wie Meditationen oder Atemtechniken sein.

Im Fall der beiden Instagram-Posts war es die wohlwollende Aufforderung, sich das zu nehmen, was man gerade braucht. Und das kann von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein, deshalb gibt es jeweils verschiedene Optionen (zufällig genau fünf in beiden Posts).

Unser Ansatz ist jedoch ein ganz anderer.


Was Influencerin Laura Seiler und ich gemeinsam haben - und was uns trennt | MEANING + More

Collage mit Screenshots von Instagram-Posts (Dr. Nina Bürklin)


Schnelles Glück oder tiefer Sinn: Was macht ein gutes Leben aus?

Wenn wir von Wohlbefinden sprechen, ist ein gelingendes Leben nicht weit weg. Viele glauben, dass ein gutes Leben mehr mit Glück (engl. happiness) als mit Sinn (engl. meaning) zu tun hat.

Es ist eine dieser Fragen, über die sich seit Jahrtausenden viele Philosophen (und andere kluge Menschen) den Kopf zerbrochen haben, Stichwort: eudiamonia vs. hedonia.

Auch die moderne Forschung von Roy F. Baumeister und Kollegen zeigt, dass es sich um zwei grundverschiedene Dinge handelt. Glücklich sein und das Leben als sinnvoll empfinden überschneiden sich, aber es gibt auch wichtige Unterschiede.

Was also führt zu einem gelungenen Leben?

Ich selbst gehöre zum “Team Meaning” und bin überzeugt, dass ein gutes Leben nicht immer nur aus dem Schönen, Leichten und Angenehmen besteht, sondern dass wir dafür wachsen müssen — auch und gerade durch Krisen, die wir durchleben.

Das Leben verlangt uns etwas ab, wir müssen uns engagieren. Und das gelingt dann besonders gut, wenn wir uns unserer Verantwortung bewusst sind und unser Leben aktiv gestalten (siehe auch unten: Menschenbild), wenn wir uns also von einer Sinnorientierung leiten lassen.


Langsames Glück (aka Sinnerleben) erfordert Engagement

Die Philosophin Rebekka Reinhard nutzt andere Begriffe. Sie vergleicht schnelles und langsames Glück und gibt damit Hinweise auf ein gutes Leben:

Jedes Glück, das sofort gute Laune macht, ist schnelles Glück. Es kommt schnell, ist aber auch schnell wieder vorbei. Daneben existiert still und leise das langsame Glück. Langsames Glück ist unspektakulär, dafür aber wenig störanfällig. Wenn Sie seinen Wert erkennen, begleitet es Sie in allem, was Sie tun, denken und fühlen. (…) Langsames Glück verlangt lebenslanges Engagement von Hirn und Herz. Schnelles Glück will man haben, langsam glücklich wird man.

— Rebekka Reinhard, Die Kunst, gut zu sein

Die gleiche Haltung hatte ich auch bei der Entwicklung meines Abreißzettels. Während die Optionen des Abreißzettels bei Laura schlicht “Magie”, “Fokus” oder “Ruhe” beinhalten, gibt es in meinem Post jeweils eine konkrete Übung pro Stichwort, um den Transfer in den Alltag noch mehr zu erleichtern.

Stimmt, diese 10-12 Worte müssen gelesen und – noch krasser – tatsächlich umgesetzt werden. Wir müssen uns engagieren, um von einem “weiten Blick” oder einem “ruhigen Atemzug” zu profitieren. Die kurze Stille, das bewusste Lächeln oder ein ruhiger Herzschlag kommen nicht von selbst.

In Lauras Caption steht lediglich der Hinweis “Kommentier’s unten, damit es zu dir kommen kann”. Inwiefern ein Kommentar von mir unter Lauras Post zu mehr Fokus bei mir führen sollte, verstehe ich nicht.

Es scheint einfacher und/oder bequemer zu sein, etwas in den sozialen Medien zu kommentieren, als sich beispielsweise 30 Sekunden Zeit für eine bewusste Atemtechnik oder eine vielfach erprobte Achtsamkeitspraxis zu nehmen.

Während die Leser meines Posts also im besten Fall ihre Sinne geschärft und sich einen Moment der Ruhe gegönnt haben, haben mittlerweile über 700 von Lauras Followern einen Kommentar hinterlassen.

Möge die Magie mit ihnen sein.


Freiheit oder Bestimmung durch’s Universum: Wie unser Menschenbild unsere Arbeit prägt

Ich kann die Sehnsucht nach Einfachheit Komplexitätsreduktion in unserer heutigen Welt gut nachvollziehen. Wer von uns hat sich nicht schon einmal gewünscht, dass alles einfacher wäre: entweder schwarz oder weiß, entweder gut oder böse. Doch so leicht ist es leider nicht.

In meiner Arbeit stelle ich mich dieser Herausforderung immer wieder.

  • Ich versuche einerseits, die oft abstrakten Begriffe der Logotherapie nach Viktor Frankl (meiner philosophischen und therapeutischen “Heimat”) zu erklären und mit alltagsnahen Beispielen zu füllen, so auch in diesem Newsletter.
  • Zum anderen bemühe ich mich, wo immer möglich, aktuelle Forschungsergebnisse einfließen zu lassen, sie entsprechend einzuordnen und etwas umgangssprachlicher zu formulieren.

Deswegen war es mir wichtig, in der Caption meines Instagram-Posts auf die weiterführende Website zu verweisen, auf der neben weiteren Übungen auch eine ausführliche Erklärung mit wissenschaftlichem Hintergrund zu finden ist.

In der Caption von Lauras Post hingegen ist zu lesen, dass sie eine “Portion Magic” braucht. Es gibt aber keinen Hinweis, wie sie diese bekommt.

Gut möglich, dass sich unser Anspruch an einen Instagram-Post hier unterscheidet: schnelles vs. langsames Glück? Und auch gut möglich, dass ihr Beitrag deswegen über 4.000 Likes bekommt.


Wie wir auf die Welt schauen, so arbeiten wir auch

Ein klares Menschenbild zu haben, das ich meiner Arbeit zugrunde lege, erscheint mir elementar. Ich gehe sogar noch weiter: Ohne ein klares Menschenbild könnte ich meine Arbeit nicht machen.

Ich selbst durfte mir im Rahmen meiner 3,5-jährigen Ausbildung die Grundlagen der Logotherapie zu eigen machen und in weiteren Fortbildungen vertiefen. Dazu gehört auch die Haltung, dass wir verantwortlich sind: Das Leben stellt die Fragen und wir haben zu antworten.

Mensch sein heißt bewusst sein und verantwortlich sein. — Viktor Frankl

Drei Punkte sind in Summe streitbar, aber klar verankert in der Logotherapie:

  1. Freier Wille. Das Zitat bringt den Kern des Menschenbildes nach Frankl auf den Punkt, demzufolge wir Menschen freie und entscheidende Wesen sind. Konkret bedeutet es, dass wir nicht von außen bestimmt werden und dass wir uns zu einer gegebenen Situation immer so oder so einstellen können. Es heißt nicht, dass wir immer etwas aktiv steuern oder direkt beeinflussen können, sondern dass wir über unsere Haltung zu den Dingen entscheiden können.
  2. Der Wille zum Sinn. Laut Frankl ist Sinn die stärkste Motivationskraft des Menschen. Wir streben also danach, sinnerfüllt zu leben. Damit hebt er sich klar von seinen Vorgänger ab, die unsere Triebe (Freud; 1. Wiener Schule) oder unser Streben nach Macht (Adler; 2. Wiener Schule) als Grundmotivation menschlichen Handelns sehen.
  3. Sinn im Leben. Grundlage der Logotherapie ist, dass unser Leben immer Sinn in sich trägt. Das heißt nicht, dass es sich in jedem Moment sinnvoll anfühlt. Wohl aber bedeutet diese Auffassung, dass es uns (sofern wir nicht zu stark psychisch oder anderweitig eingeschränkt sind) zu jedem Zeitpunkt möglich ist, dem Leben einen Sinn abzuringen.

Es geht mir nicht drum, dass alle Leser dieses Artikels dem zustimmen oder die gleiche Haltung haben. Mir ist es wichtig, dieses explizite Menschenbild als Grundlage meiner Arbeit transparent zu machen und danach zu handeln.

Bei Laura konnte ich ein solches Menschenbild nicht entdecken. Bei vielen anderen Coaches und Therapeuten übrigens auch nicht.


Schneller Kommentar oder aktives Engagement: was zählt?

In einer Welt, die nach schnellen Lösungen und einfachen Antworten verlangt, ist es verlockend, sich auf das zu konzentrieren, was leicht und angenehm ist. Ein Like-Herzchen hier, ein schneller Kommentar dort.

Doch wahres Wachstum und tiefes, langfristiges Glück erfordern mehr. Sie verlangen Engagement, die Bereitschaft, sich immer wieder den Herausforderungen zu stellen und der Verantwortung für das eigene Leben gerecht zu werden. Sie verlangen, aktiv zu bleiben.

Um wirklich lebendig zu bleiben, müssen wir uns für Mut statt Bequemlichkeit entscheiden. Nur so können wir wachsen, aufsteigen und uns selbst herausfordern.

– Susan David, Emotionale Beweglichkeit

Menschen wie Laura und ich mögen auf den ersten Blick ähnliche Ziele verfolgen, doch unsere Ansätze könnten kaum unterschiedlicher sein.

Trotzdem bin ich überzeugt: Unsere jeweilige Intention ist genuin gut. Und so wird jede von uns genau die Menschen ansprechen und abholen, die von unseren jeweiligen Arbeit profitieren.

Mögen wir beide glücklich sein.

Von Wegen Faires Spiel! Worum’s bei der Fair Play Charta wirklich geht

Sie sind wie ein Spiegel der Gesellschaft, nur etwas klarer und mit mehr Glanz: Die Olympischen Spiele in Paris zeigen, wie ein faires Miteinander über kulturelle Unterschiede und nationale Grenzen hinweg möglich ist. Die Fair Play Charta legt dafür den Grundstein, geht aber über die Spiele hinaus. Ich bin davon überzeugt, dass wir viel davon lernen können!

Natürlich gibt es aus guten Gründen auch kritische Stimmen, wenn es um Dopingverdachtsfälle oder mangelnde Nachhaltigkeit geht. Aber sich friedlich zu begegnen und nach klaren Regeln in einen fairen Wettbewerb zu treten, hat in Zeiten von Fake News und Kriegen durchaus Nachahmungspotenzial.

Was also können wir, die wir nicht zufällig zu sportlichen Höchstleistungen antreten, von diesem fairen Spiel lernen? Was sehen wir in diesem olympischen Ausschnitt der Gesellschaft, der auch auf andere Bereiche übertragbar ist? Und was hat das alles mit Empathie und Fehlerkultur zu tun?

Schauen wir uns das Ganze genauer an!


Aus der Geschichte: von Regeln zur Lebensphilosophie

Der internationale Sportverband Panthalon wurde 1951 gegründet und hat die so genannte Fair Play Charta veröffentlicht. Inhaltlich beschreibt sie zehn Grundsätze, zu denen sich eine Person verpflichtet, welche Rolle sie auch im Sport spiele (“und sei es die eines Zuschauers”).

Im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen gibt es ähnliche Prinzipien, die auf den französischen Pädagogen, Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin zurückgehen (drei Mal unnützes Wissen über ihn findest du am Ende des Artikels). Er setzte sich maßgeblich für die Wiederbelebung der Olympischen Spiele ein und gründete 1894 das Internationale Olympische Komitee.

Der so genannte Olympismus, der heute in der Olympischen Charta verankert ist, wird beschrieben als “Lebensphilosophie, die in ausgewogener Ganzheit die Eigenschaften von Körper, Wille und Geist miteinander vereint und überhöht”.

Ziel sei es, [durch] “die Verbindung des Sports mit Kultur und Bildung (…) einen Lebensstil zu schaffen, der auf der Freude an Leistung, auf dem erzieherischen Wert des guten Beispiels, der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit sowie auf der Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien aufbaut”.

Word.


Eigenverantwortung: Selbstverpflichtung statt Gesetze

Weder die Fair Play Charta noch die olympischen Grundprinzipien sind Regeln oder gar Gesetze “von oben”, sondern Leitlinien, die auf einer Selbstverpflichtung beruhen.

Die Fair Play Charta bringt es auf den Punkt: “Welche Rolle ich auch immer im Sport spiele, und sei es die eines Zuschauers, ich verpflichte mich…”. Ich (selbst) verpflichte mich (eigenständig, ohne Druck von außen). Für mich ein klarer Appell an unsere (Eigen-)Verantwortung.

Es geht um eine freiwillige Selbstverpflichtung, nicht um eine gesetzliche Verpflichtung. Das dahinter stehende Prinzip wird dem Menschenbild gerecht, in dem Viktor Frankl uns als “verantwortliche und entscheidende Wesen” beschrieben hat. Konkret: Wir werden nicht von außen bestimmt (durch das Universum, die Gesetze, … welche Kräfte auch immer), sondern wir nehmen unsere Verantwortung wahr und treffen unsere Entscheidungen selbst.

Was wäre, wenn wir in Organisationen eine ähnliche Selbstverpflichtung hätten? Eine Selbstverpflichtung, den “Code of Conduct” umzusetzen und danach zu handeln, ohne Drohungen und Sanktionen, sondern weil es in unserer Verantwortung liegt?

Ich bin sicher: Sie würde mehr Klarheit über implizite Annahmen bringen, die längst explizit gemacht werden müssten.


Fair Play, mehr als nur ein Spiel | MEANING + More

Fair Play, mehr als nur ein Spiel | MEANING + More

Fair Play bedeutet Fair Mindset

Fair Play ist in erster Linie eine Frage der inneren Einstellung und nicht des äußeren Verhaltens. Sowohl in der Charta als auch in den Olympischen Prinzipien wird deutlich, dass es im Wesentlichen um eine Haltung geht. Es geht also weniger um Instrumente, Werkzeuge, Strategien nach außen, sondern vielmehr um die innere Einstellung und Haltung. (Anmerkung: in unserem Buch Wege Agiler Führung – mit Sinn haben wir hierfür die Begriffe agile doing und agile being eingeführt)

Es geht darum, sowohl “beim Sieg als auch bei der Niederlage Würde zu bewahren” (Fair Play). Und es geht darum, “den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist” (Prinzipien des Olympismus).

Was wir hier auch sehen: Der Sport wird in den Dienst der Gesellschaft gestellt, nicht umgekehrt. Es geht also um einen Beitrag zu etwas, das größer ist als wir selbst. Logotherapeutisch gesprochen geht es um das Thema der Selbsttranszendenz, indem wir uns auf etwas einlassen, das über uns selbst hinausgeht und viel weiter reicht.


Fair heißt mitfühlend – mit uns selbst und mit anderen

“Ich verpflichte mich… Die Entscheidungen der Schiedsrichter oder Wettkampfrichter zu akzeptieren, da ich weiss, dass sie wie ich das Recht haben, einen Irrtum zu begehen, aber ihr Möglichstes tun, um dies zu vermeiden.” (Fair Play Charta) Allein in diesem Punkt kann ich tiefere Aspekte des Fair Play entdecken.

  • Positive Grundhaltung: Ich erkenne an, dass die andere Person ihr Bestes gibt, um ihre Rolle auszufüllen; ich gehe vom Guten aus und bereite so den Boden für das Wertvolle.
  • Akzeptanz: Die Entscheidung (des Schieds- oder Wettkampfrichters) zu akzeptieren bedeutet auch, das zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Logotherapeutisch sprechen wir hier von einem schicksalhaften Bereich (im Gegensatz zu einem freien Bereich, den ich aktiv beeinflussen kann).
  • (Selbst-)Mitgefühl: Ich bin mir bewusst, dass Menschen fehlbar sind. Wer hätte das gedacht? Und das schließt alle anderen ebenso ein wie mich selbst. Implizit kommt hier das Bestreben zum Ausdruck, mir selbst und anderen mit Wohlwollen zu begegnen, wie es ein guter Freund tun würde.

Fair meint auch Bewusst-Sein

Das Konzept des Selbstmitgefühls von Kristin Neff passt erstaunlich gut dazu. Die amerikanische Psychologin hat drei Komponenten des Selbstmitgefühls identifiziert:

  1. Freundlichkeit sich selbst gegenüber: Sich selbst gegenüber freundlich und fürsorglich sein. Sich selbst wie einen guten Freund behandeln. Mein Verständnis ist: Wir sehen, dass die innere Haltung des Respekts bei uns selbst beginnt – und wir können sie dann auf andere übertragen. Der wohlwollende Umgang mit uns selbst spiegelt eine positive Grundhaltung wider, die sich dann auch auf andere überträgt.
  2. Achtsamkeit: Gedanken und Gefühlen mit Achtsamkeit begegnen, d.h. die eigene Aufmerksamkeit auf das richten, was ist, und es anerkennen. Also nicht abzuwerten oder zu verurteilen, nicht zu dramatisieren, aber auch nicht zu ignorieren. Stichwort Akzeptanz, siehe oben.
  3. Verbundenheit mit allen Menschen: Anerkennen, dass Leid oder Schmerz eine Erfahrung ist, die alle Menschen teilen. In schwierigen Situationen daran denken, dass man mit dieser Erfahrung nicht allein ist. Ich bin mir sicher: Gerade bei Wettkämpfen wie den Olympischen Spielen geben alle ihr Bestes und jeder hat schon einmal eine schmerzhafte Erfahrung gemacht oder eine Niederlage erlitten (wenn nicht direkt im Sport, dann mindestens im Leben). Diese Erfahrung verbindet uns.

🎊 Das Leben? Ein Fest!

“Ich verpflichte mich… Unabhängig vom Einsatz und von der Härte des Wettkampfes aus jeder Sportveranstaltung einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen.” (Fair Play Charta)

Im Duden ist “Fest” definiert als “[größere] gesellschaftliche Veranstaltung [in glanzvollem Rahmen]”. Umgangssprachlich verstehen wir darunter oft auch Vergnügen oder Freude. Mein persönliches Verständnis ist das Zusammenkommen von Menschen, um etwas Besonderes zu feiern.

Wie auch immer: Wie wäre es, wenn wir diesen Glanz, diese Freude, diese Feierlichkeit immer wieder zum Maßstab unseres Alltags machen würden?

Die Wahrscheinlichkeit, dass jeder von uns geboren wird, ist äußerst gering. Das sollte Grund genug sein, das Leben zu feiern, wie schwer es auch sein mag. Natürlich erscheint es unangemessen, kurz nach einer Kündigung oder dem Bekanntwerden einer schweren Krankheit in Feierlaune zu verfallen, logisch.

Aber es scheint mir eine gute Idee zu sein, gerade im Alltag ab und zu die Freude und das Vergnügen, mit anderen zusammen zu sein, bewusst zu feiern. Oder sich wieder einmal bewusst zu machen, dass es nicht selbstverständlich ist, in Frieden zu leben. Oder die schier unwahrscheinliche Tatsache zu feiern, dass gerade wir am Leben sind.

Wie würde sich unser Grundgefühl verändern, wenn wir dem Alltag mit der Haltung begegnen würden, aus jedem Erlebnis einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen? Selbst wenn das nur in einem Teil der Fälle gelingt, wäre das nicht schon ein Gewinn für uns und unsere Mitmenschen, die mit uns feiern könnten?


🎯 Mehr als nur ein Spiel!

Die Fair Play Charta zeigt uns, dass Fair Play nicht nur im Sport, sondern auch im täglichen Leben von zentraler Bedeutung ist. Sie fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen und stets fair zu handeln.

Dabei geht es um mehr als nur Regeln – es geht um unsere innere Einstellung und Haltung. Wenn wir beginnen, diese Prinzipien in unserem Alltag umzusetzen, können wir eine positive Veränderung in unserer Gesellschaft bewirken.

Stellen wir uns vor, wir würden jeden Augenblick unseres Lebens zu einem Fest machen, mit Respekt und Mitgefühl für uns selbst und für andere. Das ist eine Herausforderung, aber die Belohnung ein harmonischeres und erfüllteres Leben – ist es wert.

Lassen wir uns von der Fair Play Charta inspirieren, nicht nur für den Sport, sondern als Leitlinie für ein friedlicheres und respektvolleres Miteinander!


P.S. Unnützes Wissen zu Coubertin – das nachdenklich stimmt

Hier noch drei interessante (aka überraschende, teils schockierende) Fakten rund um Coubertin, über die ich in meiner Recherche gestoßen bin.

  • Athen statt Paris: Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit fanden 1896 in Athen statt – gegen Coubertins Willen. Er wollte die ersten Spiele in seine Heimatstadt Paris holen. Das IOC entschied sich jedoch für Athen, in Anlehnung an die antiken Spiele. Coubertin hätte wohl seine wahre Freude an den diesjährigen Spielen in Paris gehabt.
  • Kunst war olympisch! Von 1912 bis 1948 gab es auch Kunstwettbewerbe bei den Olympischen Spielen. Diese wurden in den Bereichen Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei ausgetragen. Alle Kunstwerke mussten dabei einen Bezug zum Sport aufweisen. Coubertin selbst wurde 1912 unter einem Pseudonym Olympiasieger der Disziplin Literatur. Was wäre, wenn Kunst wieder olympisch würde?
  • Männer als bessere Athleten? Nicht! Nach Coubertins olympischem Idealbild sollten nur erwachsene, männliche Einzelkämpfer teilnehmen, ähnlich dem antiken Vorbild. Frauen von der Teilnahme an den Spielen auszuschließen, konnte er auf Dauer nicht durchsetzen. Ein Glück!

Vergiss‘ den langen Urlaub! So erholst du dich wirklich

Ferienzeiten sind gut und schön, aber wenn wir richtig entspannt, gesund und –  Überraschung – auch produktiv sein wollen, brauchen wir etwas anderes!


Nano-Urlaub statt Fernreise: Wie kleine Pausen deinen (Arbeits-)Alltag verändern

Eine Klarstellung zu Beginn: Urlaub ist großartig, daran besteht kein Zweifel (für mich zumindest). Aber wenn wir dauerhaft entspannt sein wollen, brauchen wir etwas anderes. Und das macht uns sogar produktiver und fördert unsere Gesundheit.

Die Rede ist vom Nano-Urlaub, herkömmlich auch “Pause” genannt. Das sind kleine Momente im Alltag, in denen wir von der Arbeit abschalten und durchatmen. Oder uns bewegen. Oder ein Gespräch führen. Gerade wenn es unser Ziel ist, gesund (und auch produktiv) zu bleiben, sind kurze Erholungsphasen wichtig. Man sollte sie sich gönnen!

Aber warum helfen uns Pausen, wenn sie doch wertvolle Arbeitszeit „stehlen“? Welche Arten von Nano-Urlaub gibt es überhaupt? Und wie kann ich auch meine Chefin davon überzeugen, dass kurze Entspannung zum Erfolg führt?


🧭 Aus der Philosophie: Re-create! Ein humanistischer Blick auf Produktivität

Allgemein gilt: Wer gut, erfolgreich und produktiv sein will, „gibt Gas”, rockt lange Arbeitstage und powert sich aus. Wirklich?

Die Philosophin Hannah Schragmann ist da anderer Meinung. In einem Podcast-Interview prägt sie einen humanistischen Produktivitätsbegriff: Produktiv ist nur, was reproduktiv ist. Soll heißen: Wirklich produktiv, also auch leistungsfähig, ist demnach nur jenes Verhalten, das eine Re-Produktion von Kräften bzw. Arbeitsleistungen zur Folge hat. Dies impliziert auch eine permanente (Re-)Produktion von Ressourcen, die nicht mit dem Erreichen eines Ziels abgeschlossen ist. Im Gegenteil: Je besser wir lernen, unsere Kräfte durch Pausen zu regenerieren, desto leistungsfähiger sind wir auch auf Dauer.

Man könnte auch sagen: Nur wer sich regelmäßig erholt, ist wirklich produktiv.

Nano-Pause statt Fernreise: so erholst du dich wirklich! | MEANING + More

Nano-Pause statt Fernreise: so erholst du dich wirklich! Image: Neslihan A.

Ich kenne das von mir selbst: Manchmal, wenn ich fest stecke, in einem Thema nicht weiterkomme und frustriert den Schreibtisch verlasse, löst sich etwas. Ein neuer Freiraum entsteht. Gerade der (räumliche) Abstand verschafft mir eine neue Perspektive, der gedankliche Block löst sich oft wie von selbst. Was braucht es also, um nicht in eine angespannte Überforderung zu geraten, sondern den Nano-Urlaub systematisch in den Alltag zu integrieren?


🔎 Aus der Wissenschaft: Hustle Culture entlarvt!

Alle wollen mehr, schneller und weiter – immer, typisch Hustle Culture! Die Idee, dass ausgerechnet Pausen, also Nano-Urlaube, uns stärker und leistungsfähiger machen sollen, klingt zu schön, um wahr zu sein! Oder? Fans der Forschung werden sich freuen, denn sie zeigt genau das Gegenteil. Und auch für alle anderen liefern die Studien stichhaltige Argumente, um die eigene Chefin zu überzeugen.

Gezielte Pausen können uns helfen, produktiver und kreativer zu werden. Drei Insights aus der Wissenschaft:

  1. Studienergebnisse zeigen: Ein Grund für die wertvolle Wirkung von Pausen ist, dass unser Gehirn regelmäßig Pausen braucht, um die aufgenommenen Informationen zu verarbeiten, zu verknüpfen und ins Langzeitgedächtnis zu übernehmen.
  2. In einer Metaanalyse konnten die Psychologen um Forscherin Albulescu zeigen, dass Pausen sogar der Schlüssel zur Produktivität sein können. In Experimenten konnte wiederholt gezeigt werden, dass sie die Vitalität steigern und die Müdigkeit reduzieren.
  3. Insbesondere kurze Pausen, auch Mikropausen genannt, zeigen diesen Effekt, den der Psychologe Alejandro Lleras erforscht hat: Schon kurze Ablenkungen von einer Aufgabe können die Fähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum auf diese Aufgabe zu konzentrieren, drastisch verbessern.

Wenn wir unserem Gehirn (und damit uns insgesamt) etwas Gutes tun wollen, sollten wir also bewusst entspannen – auch und gerade am Arbeitsplatz. Das sollte Führungskräften zu denken geben, denn es ist genau das Gegenteil der weit verbreiteten Hustle Culture.

Nur wer Pausen macht, kann inspiriert weiterarbeiten. Und nur wer Zeit für Zweckloses hat, kann sich und seine Fähigkeiten auf Dauer einbringen. Denn Tätigsein macht vielleicht glücklich, aber nur Muße macht produktiv.

– Ariadne von Schirach, Glücksversuche

Doch wie genau machen wir jetzt Pause und welche Arten von Erholung gibt es überhaupt?


👉 Aus der Praxis: Pause ist gleich Pause? Weit gefehlt!

Vielleicht hattest du auch schon mal einen Moment, in dem du wirklich erschöpft warst, aber ein Nickerchen auf der Couch nichts gebracht hat? Dann war es wahrscheinlich die falsche Art von Erholung, die falsche Art von Pause.

So, wie wir von verschiedenen Dingen, Themen und Menschen gestresst werden können, brauchen wir auch unterschiedliche Arten von Pausen.

Die amerikanische Ärztin Saundra Dalton-Smith begann sich aufgrund eigener Erschöpfungssymptome intensiver mit dem Thema Erholung zu beschäftigen. Durch ihre persönlichen Erfahrungen und die Beobachtung von Menschen, denen sie in ihrer klinischen Praxis und Forschung begegnete, identifizierte sie sieben Arten der Erholung: körperliche, mentale, spirituelle, emotionale, sensorische, soziale und kreative Erholung. Ein Mangel an nur einer dieser Arten von Erholung kann sich negativ auf unsere Gesundheit, unsere Beziehungen und natürlich auch auf unsere Produktivität auswirken.

Sieben Wege zur Erholung: Welche Art von Pause brauchst du wirklich?

  1. Körperliche Erholung: Diese Art der Erholung umfasst sowohl passive Maßnahmen wie Schlaf und Nickerchen als auch aktive Maßnahmen wie Yoga, Stretching und Massage, die helfen, sich zu entspannen und zu regenerieren.
  2. Mentale Erholung: Diese Art der Erholung zielt darauf ab, den Geist zu beruhigen und zu entlasten. Techniken wie Meditation, Pausen während der Arbeit und Aktivitäten, die den Geist entspannen, sind hier hilfreich.
  3. Spirituelle Erholung: Diese Erholung bezieht sich auf das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben. Aktivitäten wie Gebet, Meditation, ehrenamtliche Arbeit und die Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft oder einem höheren Ziel tragen dazu bei.
  4. Emotionale Erholung: Diese Erholung umfasst das Erkennen und Ausdrücken von Emotionen sowie den Umgang mit emotionalem Stress. Ehrliche Gespräche, das Schreiben eines Tagebuchs und die Suche nach emotionaler Unterstützung sind hier unerlässlich.
  5. Sensorische Erholung: Diese Erholung reduziert die Überlastung der Sinne durch Licht, Lärm und Bildschirme. Maßnahmen wie die Vermeidung von Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen und der Aufenthalt in ruhiger, dunkler Umgebung sind hier wichtig.
  6. Kreative Erholung: Diese Form der Erholung fördert die Wiederherstellung der Kreativität durch inspirierende und stimulierende Aktivitäten. Kunstbetrachtung, Naturerlebnisse und kreative Hobbys wie Malen oder Musizieren gehören dazu.
  7. Soziale Erholung: Diese Art der Erholung betont die Bedeutung erfüllender sozialer Interaktionen und Beziehungen. Es geht darum, Zeit mit Menschen zu verbringen, die einen unterstützen und positiv beeinflussen, und weniger mit Menschen, die einem die Energie rauben.

Je nach dem, welchen Belastungen wir im Berufsleben (oder in anderen Lebensbereichen) ausgesetzt sind, kann es sogar kontraproduktiv sein, das berühmte Power Nap zu machen – es kann im Einzelfall eher helfen, sich etwas zu bewegen oder ein Gespräch mit einer Kollegin oder einem guten Freund zu suchen.


Kurze Pausen für langfristigen Erfolg

In einer Welt, die uns ständig zur Höchstleistung antreibt, wirkt die Idee, durch Pausen produktiver zu werden, erst mal paradox. Doch die Wissenschaft gibt uns Recht: Kurze Erholungsmomente, die sogenannten Nano-Urlaube, sind entscheidend für unsere Leistungsfähigkeit und Kreativität. Sie ermöglichen es dir, deine Kräfte regelmäßig zu regenerieren und verhindern so langfristige Erschöpfung und Burnout.

Es ist an der Zeit, die Bedeutung von Pausen zu erkennen und sie aktiv in deinen Alltag einzubauen. Nur so kannst du dein volles Potenzial ausschöpfen und dabei gesund und ausgeglichen bleiben. Je nach dem, auf welche Art du dich gestresst oder erschöpft fühlst, kann eine andere Art von Erholung besonders wirksam sein.

Denk dran: Tätigsein macht glücklich, aber nur Muße macht wirklich produktiv.

Summer Sadness – Und was mir noch nie dabei geholfen hat

Ein Paradox, mindestens drei Erklärungen: von Japan bis Literatur

Es passiert mir jedes Mal. Mit Ansage. Ohne Halt. Spätestens am Tag vor der Abreise.

Manchmal mit einem grumpy mood, manchmal mit ein paar Tränen. Immer mit einem schweren Herzen: die Summer Sadness. So auch dieses Mal, auf dem Rückweg von Skandinavien, nach zwei Wochen Urlaub mit Midsommar-Magie.

Immer, wenn sich eine solche Auszeit dem Ende nähert, werde ich melancholisch. Ich bin traurig, dass die besondere Zeit vorbei ist.

Rationale Geister sagen, man solle sich doch lieber über das freuen, was man erlebt hat, anstatt ihm hinterherzutrauern. Stimmt vielleicht, klappt aber nur bedingt. Dieser Rat ist kognitiv nachvollziehbar, hat mir aber noch nie geholfen.

Dass ich nicht die einzige bin, der es so geht, wird an der Vielfalt der Begrifflichkeiten deutlich, die diese sonderbare Art der Traurigkeit beschreiben.

  • In Japan hat das Phänomen dieser Vergänglichkeit einen eigenen Begriff: mono no aware.
  • Der Autor Benedict Wells hat eine neue Wortkreation dafür geschaffen: Euphancholie.
  • Und die Amerikanerin Susan Cain hat dem Thema gar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet.

Enjoy the sadness!


🔎 Aus der Praxis: japanische Wehmut

Was bedeutet mono no aware?

Mono no aware ist eine japanische Redewendung für das Bewusstsein der Unbeständigkeit oder Vergänglichkeit der Dinge.

Sie beschreibt einerseits eine vorübergehende sanfte Traurigkeit (oder Wehmut). Andererseits bezeichnet sie auch eine längere, tiefere sanfte Traurigkeit darüber, dass dieser Zustand die Realität des Lebens ist.

Es geht um die Vergänglichkeit der Schönheit, das leise, beschwingte, bittersüße Gefühl, Zeuge des schillernden Zirkus des Lebens gewesen zu sein – in dem Wissen, dass nichts davon von Dauer sein kann.

Die Ästhetik [von mono no aware] liegt in der leisen Freude, die unweigerlich mit der Traurigkeit verbunden ist: die Freude, dass wir die Schönheit eines Menschen oder einer Sache erleben durften, sei sie auch noch so kurzlebig gewesen. – Yasemin Besir, Japan Digest

Wann und wie zeigt sich mono no aware?

Ein besonders prägnantes Beispiel aus Japan ist die Zeit der Kirschblüte: wunderschön, in voller Pracht, Ausdruck der lebendigen Natur. Und gleichzeitig so vergänglich, eben weil die Natur in Kreisläufen existiert und bald alles verblüht sein wird.

Bei unserem Aufenthalt in Schweden war es das besondere Licht und die magische Atmosphäre der langen Tage rund um Midsommar. Das Erlebnis der Feierlichkeiten in “unserem” Dorf haben nur noch einen drauf – wohlwissend, dass jedes Lied und jeder Tanz einmalig in diesem Moment sein würden.


💬 On words

In dem bewegenden Coming-of-Age-Roman Hard Land wird das Gefühl zwischen Berührung, Hingabe einerseits und Wehmut und Trauer andererseits mit einer neuen Wortkreation beschrieben:

So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird. Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt. – Benedict Wells, Hard Land

Der Autor Benedict Wells erklärt seine Wortschöpfung so (und ja, es gibt tatsächlich eine Baseball-Cap mit der Aufschrift Euphancolie..):

Das Wort ist eine Mischung aus ›Euphorie‹ und ›Melancholie‹. Einerseits ist man fast zerrissen vor Glück, aber auch wehmütig, weil der Moment bald vorbeigehen wird; man vermisst ihn schon jetzt.

Generell habe ich es als Jugendlicher oft selbst erlebt, dass man selbst nach schlimmsten Erfahrungen plötzlich in ausgelassenes Gelächter ausbrechen konnte – und umgekehrt. Dieses schnelle, manchmal völlig unlogische Umschlagen der Emotionen hat mich immer fasziniert, alles geschah gleichzeitig. Oder um es mit einem 80s-Song zu sagen: Dancing With Tears In My Eyes.

Wer richtig eintauchen will, dem sei die gleichnamige Playlist Euphancholie von Benedict Wells empfohlen.


 


🔎 Aus der Forschung: Bittersweetness

Die amerikanische Autorin Susan Cain hat dem paradoxen Phänomen sogar ein ganzes Buch gewidmet: Bittersweet – How Sorrow And Longing Make Us Whole. Sie schreibt dazu:

If you’ve ever wondered why you like sad music …

If you find comfort or inspiration in a rainy day …

If you react intensely to music, art, nature, and beauty …

Then you probably identify with the bittersweet state of mind.

Wozu dient Bittersweetness überhaupt?

Susan Cain beschreibt die Frage nach dem bittersüßen erleben (jeweils eigene Übersetzung aus dem Englischen):

Philosophen nennen dies das „Paradoxon der Tragödie“ und rätseln seit Jahrhunderten darüber. Warum freuen wir uns manchmal über den Kummer, während wir den Rest der Zeit alles tun, um ihn zu vermeiden? Jetzt beschäftigen sich auch Psychologen und Neurowissenschaftler mit dieser Frage und haben verschiedene Theorien aufgestellt:

Eine Mondscheinsonate kann für Menschen, die einen Verlust oder eine Depression erleben, therapeutisch sein; sie kann uns helfen, negative Gefühle zu akzeptieren, anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen; sie kann uns zeigen, dass wir mit unseren Sorgen nicht allein sind.

Wir mögen zum Beispiel keine Listen mit traurigen Wörtern oder Diashows mit traurigen Gesichtern (dies haben Forscher tatsächlich getestet). Was wir lieben, sind elegische Gedichte, nebelumhüllte Küstenstädte, Türme, die durch die Wolken ragen. Mit anderen Worten: Wir mögen Kunstformen, die unsere Sehnsucht nach Vereinigung und nach einer perfekteren und schöneren Welt ausdrücken.

Traurige Musik und melancholische Poesie – jetzt echt?

Kürzlich haben die Neurowissenschaftler Matthew Sachs und Antonio Damasio zusammen mit der Psychologin Assal Habibi die gesamte Forschungsliteratur über traurige Musik ausgewertet. In ihrem Artikel The Pleasures of Sad Music haben sie festgestellt, dass sehnsuchtsvolle Melodien unserem Körper helfen, eine Homöostase zu erreichen – einen Zustand, in dem unsere Emotionen und unsere Physiologie innerhalb eines optimalen Bereichs funktionieren.

Sie liefern Antworten auf die Frage, wie es sein kann, dass das menschliche Überleben von der Vermeidung (!) schmerzhafter Erfahrungen abhängt, der seelische Schmerz aber oft ausdrücklich in der Musik gesucht wird. Es scheint mindestens drei Erklärungen zu geben.

Traurigkeit, die durch Musik hervorgerufen wird, wird als angenehm empfunden:

  1. wenn sie als nicht bedrohlich wahrgenommen wird;
  2. wenn sie ästhetisch ansprechend ist; und
  3. wenn sie psychologische Vorteile wie Stimmungsregulierung und empathische Gefühle hervorruft, z. B. durch die Erinnerung an und das Nachdenken über vergangene Ereignisse.

Vielleicht ist das dein Call, doch mal in die euphancholische Playlist von Benedict Wells einzutauchen…?

In wie fern hat das Bittersüße auch etwas Wertvolles?

Schließlich erinnert uns (mich zumindest), dass dieser euphancholische Zustand auch sein Gutes hat:

Erinnerst du dich an die sprachlichen Ursprünge des Wortes Sehnsucht: Der Ort, an dem du leidest, ist der Ort, an dem du dich sorgst. Du leidest, weil du dich sorgst. Deshalb ist die beste Reaktion auf Schmerz, tiefer in die Sorge einzutauchen.

Es ist oft dort, wo wir den größten Schmerz empfinden, dass unsere Werte besonders sichtbar werden. Das, was uns viel bedeutet, wird verletzt.

In diesem Sinne: never stop yearning, never stop caring.

Der Elefant im Raum: er beginnt mit E und wird immer größer

Größer könnte er fast nicht sein, der Elefant im Raum. Einsamkeit is everywhere.

Es ist an der Zeit für uns alle, hinzuschauen. Auch die Bundesregierung wacht langsam auf, wenn es um die institutionelle Erforschung und Bekämpfung von Einsamkeit geht. Das ist auch gut so, denn Einsamkeit betrifft nicht nur einzelne wenige, sondern kann massive gesellschaftliche Auswirkungen haben. Stichwörter: Gesundheitsprävention, Gender (Loneliness) Gap, Stabilisierung der Demokratie.

Letzte Woche erschien das erste Einsamkeitsbarometer der Bundesregierung. Der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und vom Kompetenznetz Einsamkeit erarbeitete Bericht beschreibt die Entwicklung von Einsamkeit in unserer Gesellschaft.

Nicht nur hier wird klar: In verschiedenen Gruppen stellt sich Einsamkeit unterschiedlich dar und hat viele Ursachen. Laut Aussage des Psychoanalytikers und Psychotherapeuten Udo Rauchfleisch können die Ursachen von Einsamkeit individuelle, gesellschaftliche und sogar globale Faktoren beinhalten. Ein Beispiel: verheiratete Menschen mit höherer Bildung und gutem Einkommen fühlen sich seltener einsam als alleinstehende Menschen mit wenig Bildung und wenig Einkommen.

Trotz der riesigen Dimension des Themas habe ich die wichtigsten Insights des Einsamkeitsbarometers zusammengefasst, durch wissenschaftliche Erkenntnisse angereichert und mit logotherapeutischen Impulsen verfeinert.

Einsamkeit ist zu groß, als dass wir wegschauen und -hören könnten.

Let’s read & lead!

 

IN A NUTSHELL

1. Einsamkeit ist ein weit verbreitetes und ernsthaftes gesellschaftliches Problem

Einsamkeit betrifft Menschen aller Altersgruppen und hat erhebliche gesundheitliche und gesellschaftliche Auswirkungen. Besonders gefährdete Gruppen sind ältere Menschen, junge Erwachsene, Arbeitslose, Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist wichtig, das Thema nicht zu ignorieren, sondern aktiv Maßnahmen zur Prävention und Unterstützung zu ergreifen.

2. Einsamkeit ist eine subjektive Erfahrung – der auch gesellschaftliche Ursachen zugrunde liegen

Einsamkeit ist nicht dasselbe wie allein zu sein; sie ist ein subjektives Gefühl des Mangels an ausreichenden sozialen Beziehungen. Diese Diskrepanz zwischen den gewünschten und tatsächlichen sozialen Kontakten kann sich sowohl auf die Quantität als auch die Qualität der Beziehungen beziehen. Verstehen wir Einsamkeit als subjektive Wahrnehmung, können wir besser nachvollziehen, warum Menschen sich einsam fühlen, selbst wenn sie nicht allein sind. Die Ursachen für dieses Gefühl sind jedoch vielfältig und können neben individuellen, auch gesellschaftliche und gar globale Faktoren beinhalten.

3. Soziale Bindungen und gesellschaftliche Teilhabe sind zentrale Schutzfaktoren

Menschen mit starken sozialen Netzwerken und guter Bildung sind weniger von Einsamkeit betroffen. Während der Pandemie haben sich soziale Bindungen als besonders wertvoll erwiesen. Es ist entscheidend, soziale Kontakte zu pflegen und gesellschaftliche Teilhabe zu fördern, um Einsamkeit entgegenzuwirken. Ein offenes Ohr und unsere ungeteilte Aufmerksamkeit für einen Menschen können ein erster Schritt sein.

🔎 Aus der Praxis: Einsamkeit in Deutschland über zwanzig Jahre (1992 bis 2021)

Was genau ist das Einsamkeitsbarometer 2024?

Das Einsamkeitsbarometer ist eine Untersuchung der Langzeitentwicklung der Einsamkeitsbelastungen innerhalb der Bevölkerung (18 Jahre und älter) in Deutschland auf Basis repräsentativer Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zwischen 1992 und 2021. Laut eigener Aussage soll der Einsamkeitsbarometer 2024:

  • “repräsentative Aussagen zur Entwicklung der Prävalenz von Einsamkeit in der erwachsenen deutschen Bevölkerung über die Zeit ermöglichen,
  • vulnerable Gruppen und Risikofaktoren identifizieren,
  • Veränderungen und Trends in den Einsamkeitsbelastungen unterschiedlicher Gruppen aufzeigen sowie
  • eine internationale Vergleichbarkeit der Daten im Zeitverlauf gewährleisten” (S. 9).

 

Was zeigen die Ergebnisse?

Der gesamte Einsamkeitsbarometer umfasst 80 Seiten (der statistische Anhang ist nicht mitgerechnet), ein paar der zentralen Ergebnisse sind folgende:

  1. Langzeitentwicklung von Einsamkeitsbelastungen: Nach einem starken Anstieg der Einsamkeit im ersten Pandemiejahr 2020 zeichnet sich für 2021 eine Rückkehr auf das Niveau vor der Pandemie ab. Dennoch bleiben die Einsamkeitsraten höher als im Jahr 2017. Besonders betroffen sind ältere Menschen über 75 Jahre und junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren. Frauen sind generell stärker von Einsamkeit betroffen als Männer, und dieser Unterschied hat sich durch die Pandemie noch verstärkt.
  2. Lebenslagen von Menschen mit erhöhter Einsamkeit: Einsamkeit schadet der physischen und psychischen Gesundheit. Besonders betroffen sind Arbeitslose, wobei sich die Unterschiede zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen während der Pandemie deutlich verringert haben. Auch Alleinerziehende, pflegende Angehörige und Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung sind besonders belastet.
  3. Resilienzquellen gegen Einsamkeit: Teilhabe und soziale Bindungen: es gibt auch gute Nachrichten: Die Qualität der sozialen Beziehungen und die gesellschaftliche Teilhabe sind in Deutschland stabil und hoch. Besuche bei Familie und Freunden blieben auch während der Pandemie häufig. Auch die Bildung spielt eine wichtige Rolle: Höher gebildete Menschen sind weniger von Einsamkeit betroffen.
  4. Regionale und raumbezogene Aspekte von Einsamkeit: Einsamkeit unterscheidet sich kaum zwischen West- und Ostdeutschland oder zwischen Stadt- und Landbewohnern.
  5. Einsamkeit und Demokratie: Menschen, die sich einsam fühlen, haben weniger Vertrauen in politische Institutionen und interessieren sich weniger für Politik. Sie neigen auch eher zu Verschwörungstheorien und beteiligen sich weniger an Wahlen.

 

Und nun, was tun? Handlungsempfehlungen der Bundesregierung

Im Einsamkeitsbarometer wird Einsamkeit als “ressortübergreifende Herausforderung” betrachtet. Erste Handlungsimplikationen gehen in folgende Richtung (kleine Auswahl):

  • Berücksichtigung aller Altersgruppen: Einsamkeit betrifft Menschen jeden Alters. Maßnahmen sollten daher alle Altersgruppen berücksichtigen.
  • Genderpolitik: Einsamkeit ist auch eine Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Frauen sind häufiger betroffen, daher sind geschlechtersensible Maßnahmen notwendig.
  • Gesundheitsvorsorge: Soziale Bindungen sind wichtig für die Gesundheit. Einsamkeitsprävention sollte Teil der Gesundheitsvorsorge sein.
  • Armut und Arbeitsmarkt: Einsamkeit steht in engem Zusammenhang mit Armut. Maßnahmen gegen Einsamkeit sollten daher auch in die Arbeitsmarkt- und Armutspolitik integriert werden.
  • Care-Arbeit: Menschen, die Care-Arbeit leisten (z.B. Alleinerziehende, Pflegende), sind besonders betroffen. Hier ist eine Vernetzung von Familien-, Gleichstellungs- und Einsamkeitspolitik notwendig.
  • Bildung: Bildung ist ein wichtiger Schutzfaktor vor Einsamkeit. Aufklärungsarbeit sollte insbesondere auch Menschen mit niedrigem Bildungsniveau erreichen.

 

 

🔎 Aus der Forschung: Facetten und Folgen von Einsamkeit

Was ist Einsamkeit überhaupt – und was nicht?

In dem Einsamkeitsbarometer wird Einsamkeit in Anlehnung an Perlman & Peplau (1981) definiert als „unangenehme Erfahrung, bei der die eigenen sozialen Beziehungen entweder quantitativ oder qualitativ als unzureichend empfunden werden“ (S. 13).

Und weiter: “Es handelt sich hierbei also um eine subjektive Wahrnehmung der betroffenen Personen. Einsamkeit entsteht in der Diskrepanz zwischen den Erwartungen an soziale Beziehungen und den tatsächlich vorhandenen Beziehungen. Darüber hinaus kann sich der empfundene Mangel sowohl auf die Anzahl an sozialen Kontakten (Quantität) als auch auf deren Qualität beziehen“ (S. 13).

Wichtig ist der Hinweis von Rauchfleisch in seinem Buch Einsamkeit – Die Herausforderung unserer Zeit: „Einsamkeit ist zwar ein Gefühl, das wir individuell erleben und erleiden. Ihm liegen jedoch neben individuellen auch gesellschaftliche und sogar globale Ursachen zugrunde“ (S. 8).

Einsamkeit ist…

  • nicht: soziale Isolation. Einsamkeit abzugrenzen von sozialer Isolation: “Mit sozialer Isolation wird der objektive Zustand des Alleinseins beschrieben, während, wie oben dargestellt, Einsamkeit das subjektive Erleben betrifft. Die Erfassung von Einsamkeit basiert meist auf Selbstauskünften der betreffenden Personen, während die soziale Isolation als eher objektives Konstrukt leichter messbar ist” (Rauchfleisch, 2024, S. 11).
  • nicht: allein-Sein. „Ebenfalls ist zu unterscheiden zwischen „Allein-Sein“ und „Sicheinsam-Fühlen“. Im Alltagssprachgebrauch werden diese beiden Begriffe zwar häufig synonym verwendet, sie bezeichnen jedoch nicht dasselbe. Während Einsamkeit das beschriebene subjektive Gefühl betrifft, ist „Allein-Sein“ ein objektiv sichtbarer Zustand. Beides tritt zwar häufig zusammen auf, ist aber nicht notwendigerweise miteinander verknüpft“ (Rauchfleisch, 2024, S. 12).

 

Facetten von Einsamkeit

Einsamkeit kann individuelle, gesellschaftliche und globale Ursachen haben. Zudem ist es wertvoll, die unterschiedlichen Facette von Einsamkeit zu differenzieren. Luhmann & Bücker (2019) beschreiben drei Ausprägungen: emotionale, soziale und kollektive Einsamkeit (S. 5):

  • Emotionale Einsamkeit (auch: intime Einsamkeit), beschreibt einen Mangel einer sehr engen, intimen Beziehung, wie sie zum Beispiel in Paarbeziehungen zu finden ist.
  • Soziale Einsamkeit, auch relationale Einsamkeit genannt, bezieht sich auf denMangel von Freundschaften und weiteren persönlichen Beziehungen.
  • Kollektive Einsamkeit umfasst ein Gefühl der fehlenden Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft oder zur Gesellschaft.

 

 

Folgen von Einsamkeit

Lange Zeit ging man davon aus, dass Einsamkeitsgefühle psychisch belastend sind. Dass aber auch körperliche Erkrankungen die Folge sein können, wurde nicht beachtet. Bahnbrechend war in dieser Hinsicht eine Veröffentlichung von House et al. (1988), die in der renommierten Zeitschrift Science über die Ergebnisse ihrer Studie Social Relationships and Health berichteten. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass länger andauernde Einsamkeit zu einem signifikanten Anstieg von Morbidität und Mortalität führt.

Kurz gesagt: Wer einsam ist, wird häufiger krank und stirbt deutlich früher.

Psychische und körperliche Erkrankungen gehen hierbei oft Hand in Hand. Die folgende Auswahl von Aspekten in Anlehnung an Rauchfleisch ist ein Versuch, die Folgen besser greifen zu können.

  • Psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Suchtentwicklung: Gerade bei Depressionen besteht häufig die Problematik, dass die Depression nicht nur eine Folge der erlebten Einsamkeit ist, sondern ihrerseits oft zu einem weiteren Rückzug aus sozialen Kontakten führt. Ähnliches gilt in vielen Fällen für Suchtkranke.
  • Bedrückende Empfindungen wie Scham- und Schuldgefühle, Leeregefühle, Angst vor Nähe: Gerade Scham gilt als eines der unangenehmsten Gefühle, das durch die Erfahrung der eigenen Unzulänglichkeit gekennzeichnet ist. “Während es bei der Scham um Selbstablehnung und eine zentrale Infragestellung der eigenen Person geht, entstehen Schuldgefühle, wenn eine Person die von außen oder von sich selbst gesetzten Ziele und Erwartungen nicht erfüllt” (S. 109). Auf den Punkt gebracht: Schuld bedeutet “Ich habe etwas falsch gemacht”, während Scham bedeutet “Ich bin selbst falsch”.
  • Verheimlichungsstress (“minority stress”): In Anlehnung Mayer (2003) wird diese Art von Stress von Menschen erlebt, die sich schämen, einer Gruppe anzugehören, die von ihrem Umfeld abgelehnt wird, wie z.B. von Armut betroffene oder homosexuelle Menschen. Sie versuchen daher, Merkmale, die darauf hinweisen könnten, zu verbergen.
  • Gesellschaftliche Auswirkungen wie die forcierte Suche nach Kontakten: Auch wenn es von außen als vermeintlich gute Strategie wahrgenommen wird, kann in einem solchen Fall von Hyperaktivität nicht von einem konstruktiven Versuch gesprochen werden, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen. Vielmehr handelt es sich um einen erzwungenen Weg, um jeden Preis (irgendeinen) Kontakt zu anderen Menschen herzustellen.
  • Körperliche Erkrankungen: In einem Bericht vom Institut der Deutschen Wirtschaft (2019) werden die gesundheitlichen Folgen basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen klar benannt: “Neben den direkten negativen Gefühlen und dem persönlichen Leid für die Betroffenen, erhöht sich durch Einsamkeit das Risiko gesundheitlicher Nachteile: Einsamkeit führt in einem vergleichbaren Ausmaß wie Tabakkonsum zu früherer Mortalität. Sie steht in Zusammenhang mit einem höheren Risiko von Inaktivität, Rauchen oder risikobehaftetem Verhalten, Herzinfarkten und Schlaganfällen sowie einer höheren Anfälligkeit für Depressionen. Einsame Menschen leiden häufiger unter einem geringen Selbstwertgefühl, Schlafproblemen sowie Stress und haben ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken“ (S. 3; ausführliche Quellenangaben im Originaltext).

Zudem können sich die Folgen von Einsamkeit auch finanziell äußerst negativ bemerkbar machen, wie Bücker (2021) beschreibt: “Während vorübergehende Einsamkeit durchaus als normale menschliche Erfahrung beschrieben werden kann, hat chronische Einsamkeit gravierende negative Konsequenzen für die Gesundheit und die Lebenserwartung. Fulton und Jupp (2015) schätzten die Gesamtkosten für chronische Einsamkeit mittelfristig (15 Jahre) auf etwa £12.000 pro Person im Vergleich zu Personen, die nicht einsam sind. Etwa 40% der geschätzten Kosten traten innerhalb der ersten 5 Jahren in der chronischen Einsamkeit auf und etwa 20% der geschätzten Kosten waren mit der stationären Pflege verbunden” (S. 5).

 

 

🚀 Meaning Matters: eine Einordnung der Erkenntnisse zu Einsamkeit

1. Einsamkeit betrifft uns alle!

Selbst wenn wir zu den Glücklichen gehören, die nicht einsam sind: die Folgen von Einsamkeit gehen uns alle etwas an. Gesellschaftliche Spannungen wie die Schere zwischen Arm und Reich, politische Auswirkungen wie die Verbreitung von Verschwörungstheorien oder die erhöhten Belastungen für das Gesundheitssystem betreffen uns alle. Es ist an der Zeit zu handeln!

Und wenn wir zu denen gehören, die sich einsam fühlen? Dann sind wir in guter Gesellschaft. Allein die Erkenntnis, dass wir nicht die einzigen sind, die sich einsam fühlen, kann helfen, etwas besser mit der Situation klarzukommen. Möglicherweise gibt es eine Person, der wir uns anvertrauen können oder ein Projekt, bei dem wir uns engagieren können.

2. Die Chancen von Einsamkeit

Frankl betonte immer wieder, dass Menschen selbst in den schwierigsten Situationen einen tieferen Sinn finden können. Einsamkeit können wir als Chance sehen, um uns mit den eigenen Werten und Zielen auseinanderzusetzen. Einsamkeit kann so auch in eine Phase der Selbstreflexion und des Wachstums verwandelt werden. Zudem lehrte Frankl, dass jeder Mensch die Freiheit hat, seine Haltung zu den Gegebenheiten des Lebens zu wählen. Auch wenn Einsamkeit oft als äußerer Zustand empfunden wird, haben wir die Freiheit, unsere Einstellung dazu zu wählen. Wir können uns entscheiden, die Einsamkeit als vorübergehende Phase zu akzeptieren und bewusst nach Wegen zu suchen, um daraus hervorzukommen.

3. Die verborgene Seite von Einsamkeit

Über lange Zeit wurde Einsamkeit vor allem in der Philosophie diskutiert, hier vor allem als schöpferischer Zustand, von dem auch viele Künstler berichtet haben. Diese Auffassung wurde von dem Interesse der Soziologen und Psychologen im 20. Jahrhundert durch ein eher negativ geprägtes Bild abgelöst. Doch kann Einsamkeit auch etwas Gutes haben? Die Auszeit allein in der Natur, der ruhige Tag zuhause (auch mal ohne Partner und Kinder), die Stille während eines Spaziergangs allein, …? Damit sind wir beim Stichwort: für mich sind diese Aspekte Fälle von “alleinsein”, also frei gewählt — und damit abzugrenzen von Einsamkeit. Selbst in die Stille zu gehen, sich bewusst zurückzuziehen, kann unglaublich heilsam sein und kreative Prozesse fördern, aber eben nur dann, wenn wir es freiwillig tun.

 

What to do? Erste Ideen

Individuelle Ansätze

  • Einsamkeit akzeptieren: If you can feel it, you can heal it. So paradox es klingt und so schmerzhaft es auch sein mag: das Gefühl der Einsamkeit anzunehmen, ist der erste Schritt, um besser damit umzugehen. Nur so können wir anfangen, nach Wegen zur Lösung zu finden.
  • Sich “common humanity” bewusst machen: Wie Kristin Neff im Zusammenhang mit Selbstmitgefühl immer wieder zeigt, ist viel gewonnen, wenn wir uns bewusst machen, dass wir nicht die Einzigen sind, die solche Gefühle haben. Im Gegenteil: Es macht uns gerade zu Menschen und verbindet uns mit anderen.

Zwischenmenschliche Ansätze

  • Präsent sein und zuhören: Wann immer es möglich ist: Schenke jemand anderem etwas von deiner Zeit und deiner Aufmerksamkeit. Das kann Wunder wirken. Hier setzt auch die Dyadenpraxis auf Basis der Forschung von Prof. Tania Singer an: nachweislich kann das 10-wöchige Programm, in dem Teilnehmende jeden Tag 15 min. bewusstes Mitteilen und Zuhören üben, dazu führen, dass Gefühle von Einsamkeit und Angst reduziert, Resilienz hingegen gesteigert wird.
  • Sich sozial engagieren: gemeinsam mit anderen für eine Sache einzutreten oder Projekte voranzutreiben, kann das Gefühl der Einsamkeit schnell verringern. Zudem hilft es, sich über ein Thema zu vernetzen. Über Ehrenamtsplattformen und Apps können Projekte auch stadtspezifisch gesucht und gefunden werden.

Gesellschaftliche Ansätze

  • Förderung von Forschung: Weitere Unterstützung zur Förderung von wissenschaftlichen Erkenntnissen rund um Einsamkeit. Dazu gehört auch die regelmäßige Fortführung des Einsamkeitsbarometers zur Erfassung des aktuellen Stands und der langzeitlichen Entwicklung.
  • Aktionswoche Gemeinsam aus der Einsamkeit: Vom 17. bis 23. Juni 2024 findet die Aktionswoche „Gemeinsam aus der Einsamkeit“ statt. Dieses Jahr findet bereits die zweite Aktionswoche dieser Art statt. Sie soll für das Thema Einsamkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sensibilisieren und Unterstützungsangebote in ganz Deutschland sichtbar machen. In verschiedenen Formaten werden Begegnungsorte geschaffen und sichtbar gemacht. Damit soll das Thema der Einsamkeit enttabuisiert, Menschen zusammengebracht und ihnen Unterstützungsangebote aufgezeigt werden.

McKinsey und spirituelle Gesundheit? Ja, eine große Studie – aber das haben sie nicht berücksichtigt

Ich werde sehr hellhörig, wenn sich krasse Gegensätze im Arbeitskontext auftun, so wie die News einer internationalen Unternehmensberatung mit dem Fokus auf spiritueller Gesundheit.

Ich meine, McKinsey und Sinn im Leben… echt jetzt?

Und dann werde ich neugierig, weil ich es selbst liebe, Ungewöhnliches zu verbinden (nicht umsonst halte ich zum wiederholten Mal mein Seminar zu Werte- und Sinnorientierung in der Wirtschafts- und Arbeitswelt). Vielleicht stimme ich nicht mit allem überein, aber in meistens gibt es in diesen Spannungsfeldern etwas zu entdecken.

So auch in diesem Fall, wenn McKinsey plötzlich über mentale Gesundheit und Sinn im Leben berichtet (siehe 🔎 Aus der Praxis). Als Logotherapeutin und promovierte Betriebswirtin kann und will ich das so nicht stehen lassen und biete eine Einordnung (siehe 🚀 Meaning Matters) mit Rückbezug auf moderne Wissenschaften, eigene Erfahrungen und die Logotheapie mit Viktor Frankls Gedankengut.

Let’s read & lead!

 

IN A NUTSHELL

1. McKinsey untersucht spirituelle Gesundheit: nur eine neue Perspektive auf ein altes Thema?

McKinsey hat eine umfassende Studie zur spirituellen Gesundheit veröffentlicht, basierend auf Daten von über 41.000 Menschen aus 26 Ländern. Die Generation Z (13-24 Jahre) steht im besonderen Fokus und ist überdurchschnittlich stark vertreten. Die Ergebnisse zeigen, dass spirituelle Gesundheit – verstanden als Sinn im Leben und Verbundenheit mit etwas Größerem – eng mit mentaler, sozialer und körperlicher Gesundheit verknüpft ist.

2. Die Erkenntnisse sind kongruent mit anderen Forschungsergebnissen: Sinnerleben und Gesundheit sind eng miteinander verknüpft

Wusstest du, dass ein starkes Gefühl von Sinnhaftigkeit nicht nur dein geistiges Wohlbefinden, sondern auch deine körperliche Gesundheit fördern kann? Studien zeigen, dass Menschen, die Sinn im Leben erfahren, körperlich aktiver sind, weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben und sogar länger leben. Sinn ist also kein esoterischer Luxus, sondern essenziell für deine Gesundheit.

3. Generation Z und die Suche nach Sinn: Herausforderungen und Chancen

Die Gen Z zeigt laut der McKinsey-Studie einen signifikanten Mangel an spiritueller, mentaler und sozialer Gesundheit. Aus meiner Sicht kein Zufall: in jungen Jahren ist es oft schwer, einen klaren Lebenssinn zu finden. Doch gerade hier liegt eine große Chance: Unternehmen und andere Stakeholder können Räume schaffen, in denen (junge) Menschen reflektieren und ihren eigenen Weg zu einem sinnvollen Leben finden können.

🔎 Aus der Praxis: McKinsey’s Studie zu spiritueller Gesundheit

Worum geht’s hier eigentlich?

McKinsey hat diese Woche einen Artikel mit Ergebnissen einer Studie zum Thema spirituelle Gesundheit veröffentlicht. Der Titel: “Auf der Suche nach sich selbst und etwas Größerem: Eine Erkundung der spirituellen Gesundheit” (engl. In search of self and something bigger: A spiritual health exploration).

  • Die Studie wurde von der not-for-profit Organisation McKinsey Health Institute durchgeführt (ich wusste nicht, dass es die überhaupt gibt)
  • Die Daten wurden im Jahr 2022 mit 41.060 Probanden erhoben und sind “self-reported” (die Leute füllen also einen Fragebogen aus)
  • Die Teilnehmenden kommen aus 26 verschiedenen Ländern
  • Ein Teil der Bevölkerung, nämlich die Gen Z (Personen zwischen 13 und 24 Jahren), sind bewusst überrepräsentiert mit knapp 17.000 Personen

Rein statistisch gesehen haben wir also einen ganz guten Querschnitt durch verschiedene Nationalitäten und Altersgruppen mit einem Fokus auf der Gen Z. Allerdings bedeutet “self-reported” auch, dass es keine weiteren Messpunkte gab, also bspw. Beobachtungen oder physische Indikatoren.

So viel zum Set-Up.

 

 

Was kam dabei ‘raus?

Die Ergebnisse der Studie werden in dem Artikel so zusammengefasst:

  1. Spirituelle Gesundheit bedeutet, einen Sinn im Leben zu haben, ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas, das größer ist als man selbst, und eine Idee von Sinn im Leben. Die Suche nach diesem Sinn ist mit einer starken mentalen, sozialen und körperlichen Gesundheit verbunden (Hinweis: insgesamt wurden diese vier Komponenten von Gesundheit in der Studie erhoben).
  2. Obwohl die Bewertung der spirituellen Gesundheit je nach Alter und Standort sehr unterschiedlich ausfällt, ergab die Studie, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten über alle Generationen hinweg angab, spirituelle Gesundheit sei für sie „etwas“ bis „extrem“ wichtig.
  3. Soziale, öffentliche und private Stakeholder können Wege finden, um Menschen dabei zu helfen, einen Raum für Reflexion und Austausch über ihr Leben zu finden. Dazu gehören auch Arbeitgebende, die den Menschen helfen wollen, einen Sinn in ihrer Arbeit zu finden.

 

Weitere Aspekte der Studie

“Spirituelle Gesundheit” ist für die meistens von uns noch schwer zu greifen und nicht leicht zu definieren. Es geht um eine Komponente, die über unser rein physisches und psychisches Wohlbefinden hinausgeht. Klar ist: Gesundheit ist mehr als das reibungslose Funktionieren unseres Körpers.

Wichtig ist hierbei, dass es nicht zwingend um das Praktizieren von religiösen Ritualen oder die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft geht, wenngleich dies ein Teil sein kann. In dem Artikel von McKinsey steht, dass spirituelle Gesundheit “nicht unbedingt mit religiösen Überzeugungen verbunden, sondern eher mit dem Sinn des eigenen Lebens, einem umfassenden Gefühl der Verbundenheit mit etwas, das größer ist als man selbst, und einem starken Gefühl der Zielstrebigkeit“.

Es scheint, dass die Gen Z (vor allem im Vergleich zu den anderen Generationen) einen großen Mangel an mentaler, sozialer und – eben auch – spiritueller Gesundheit hat. Ob das ein Zufall ist? Gleichzeitig gibt es einen positiven Zusammenhang zwischen dem Erleben von “spiritueller Gesundheit” und anderen Aspekten von Gesundheit.

Will heißen: Menschen, die Sinn im Leben und ein Gefühl von Verbundenheit zu etwas Größerem als sie selbst erfahren (so die Definition von spiritueller Gesundheit), sind in Summe auch gesünder.

 

Was machen wir mit diesen Erkenntnissen?

Als Logotherapeutin und promovierte Betriebswirtin, die sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema Werte und Sinn auseinandersetzt, kann ich so das nicht stehenlassen. Gerade die moderne Wissenschaft, ebenso wie Experten mit interdisziplinärem Hintergrund und auch die Logotherapie selbst helfen, diese Erkenntnisse besser und umfassender zu verankern. Deswegen die folgende Einordnung.

 

 

🚀 Meaning Matters: eine Einordnung der Studienergebnisse zu spiritueller Gesundheit

 

1. Schon Viktor Frankl wusste: die Erfahrung von Sinn und Verbundenheit fördert unsere Gesundheit.

Viktor Frankl sprach oft davon, dass eine Sinn-Leere uns Menschen krank macht (er nannte dieses Erleben auch ein “existentielles Vakuum”). Im Gegensatz dazu ist das in der Studie beschrieben Gefühl von Verbundenheit zu etwas Größerem als einem selbst genau das, was den Menschen ausmacht.

  • Selbsttranszendenz, wie von Frankl beschrieben, bezieht sich darauf, dass das Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – sei es ein Sinn, den man verwirklicht oder die Hingabe an eine Sache oder eine andere Person.
  • Die Logotherapie betont die Selbsttranszendenz als einen wesentlichen Bestandteil der menschlichen Existenz und hebt hervor, dass wahre Erfüllung nur dann erreicht werden kann, wenn man sich über die eigenen Bedürfnisse und Interessen hinaus für etwas Größeres einsetzt.
  • Diesem Gedanken folgend ist es nur logisch, dass (auch spirituelle) Gesundheit mit dem Gefühl von Verbundenheit oder gar Selbsttranszendenz zu tun hat.

Die Erkenntnis aus der Studie, dass die Erfahrung von Sinn im Leben zu erhöhter Gesundheit beiträgt, ist also nicht neu.

Bestätigung finden wir auch von dem Medizinprofessor Tobias Esch in seinem Buch “Wofür stehen Sie morgens auf?”. Er exploriert neben der körperlichen, psychischen und sozialeben Ebene von Gesundheit auch eine vierte Ebende, nämlich die von Bedeutsamkeit und Sinn:

“In der Folge schlug ich schließlich vor, dem allgemeinen Gesundheitsverständnis, also der bisher dreidimensionalen Definition von Gesundheit, jene vierte Dimension auch formal hinzuzufügen: die spirito-kulturelle Dimension, hier zusammengefasst als die subjektive oder Bedeutungsdimension. Mit einem Augenzwinkern beschreibe ich die Gesundheit nunmehr als bio-psycho-sozio-spirito-kulturell. Unsere Forschungen bestätigen mittlerweile diesen Ansatz. (…)

In der vierten Dimension geht es nun um das Erleben von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit, beides stellvertretend für das Gefühl der Verbundenheit. Gesund wäre demnach, wer sich als kohärent und resonant mit der Welt, mit ihr auch im Inneren verbunden und stimmig fühlt.“

 

 

2. Die moderne Wissenschaft zeigt längst: Sinn ist kein Eso-Kram, sondern (über-)lebenswichtig!

Ich kann Menschen verstehen, die gerne Zahlen, Daten und Fakten sehen wollen – insbesondere dann, wenn es um scheinbar abstrakte Themen wie Sinn und spirituelle Gesundheit geht.

Das Schöne ist, dass wir diese (alten und neuen) Insights über den Zusammenhang von Gesundheit und Sinnerfahrungen jetzt auch durch moderne Forschung stützen können. Here we go.

Ein paar Beispiele aus der Wissenschaft:

  • Ein ausgeprägtes Gefühl für Sinn im Leben steht in Verbindung mit verbesserter Gesundheit und Verhaltensweisen, einschließlich erhöhter körperlicher Aktivität (Hooker & Masters, 2016), weniger Schlaganfällen (Kim et al., 2013), weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Cohen et al., 2016) und sogar einem geringerem Sterberisiko (Alimujiang et al., 2019).
  • Das Erleben von Sinn ist auch für eine gesunde psychische Funktionsfähigkeit, einschließlich des Gedächtnisses und allgemeiner kognitiver Fähigkeiten (Lewis et al., 2017), sowie für die psychische Widerstandsfähigkeit über die gesamte Lebensspanne (Feder et al., 2009) von entscheidender Bedeutung.
  • Auf der anderen Seite des Spektrums wird ein geringes Maß an Sinnerleben mit verschiedenen psychischen Störungen in Verbindung gebracht (Goodman et al., 2018).

 

3. Die Gen Z leidet unter einem besonderem Mangel an spiritueller Gesundheit – really?

Wenn, wie in der Studie geschehen, “spirituelle Gesundheit” beschrieben wird als “einen Sinn im Leben zu haben, ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas, das größer ist als man selbst, und eine Idee von Sinn im Leben“, dann ist für mich völlig klar, dass die Gen Z sich weniger “spirituell gesund fühlt” als die anderen Generationen.

Wer wusste schon im Teenie-Alter, was ihm Sinn im Leben gibt oder wann und wie sie sich besonders zu etwas Größerem als ihr selbst verbunden fühlt? Ich bestimmt nicht. Ist nicht gerade diese Phase im Leben eine, in der Vieles (wenn nicht alles) infrage gestellt wird?

Fun Fact: schaut man genauer in die Daten, wird schnell klar, dass die drei Komponten mentale, soziale und spirituelle Gesundheit über die Bevölkerungsgruppen hinweg ansteigen. Will heißen: je älter, desto mehr weiß man, was einem Sinn im Leben gibt. Für mich recht logisch.

Dazu passt auch die neurowissenschaftliche Sicht auf drei Arten Glück, die üblicherweise mit den Lebensphasen einhergeht. Viele Menschen erleben erst mit dem Alter das, was als Glückseligkeit beschrieben wird und an Selbsttranszendenz grenzt. Mehr dazu in meinem Newsletter zum Thema Glück.

 

4. Arbeitgebende können Räume schaffen, um Sinn zu erleben – und das sollten sie auch tun!

Klar ist, dass Sinn nicht von außen verordnet kann. Das liegt auch daran, dass Sinn ein zutiefst individuelles Erleben ist.

Wenn es in der Studie nun heißt, “Soziale, öffentliche und private Stakeholder können Wege finden, um Menschen dabei zu helfen, einen Sinn und Raum zum Nachdenken über ihr Leben zu finden”, dann kann und muss ich das doppelt unterstreichen und mit Ausrufezeichen versehen.

Mehr denn je leiden heutzutage viele Menschen an einem Mangel an Sinn, wie es auch schon Viktor Frankl beschrieben hatte. Viele Klienten, mit denen ich arbeite, haben alle materiellen Bedürfnisse (über-)erfüllt und sagen mir ganz direkt “Ich fühle mich total leer, ich sehe in all dem keinen Sinn”.

Dass wir gesamtgesellschaftlich und gerade als Führungskräfte oder Arbeitgebende noch mehr Räume schaffen sollten, in denen Menschen dazu reflektieren und sich austauschen können, erscheint mir eine logische Folgerung.

Nicht umsonst habe ich dieses Jahr mit meinen zwei Co-Autoren ein Buch geschrieben, indem es darum geht, wie agile Führung nicht nur Methoden (agile doing), sondern vor allem die Entwicklung und Förderung eines wertebasierten Mindsets (agile being) umfasst. Es geht um mehr Sinnorientierung, auch und gerade in der Arbeitswelt. Wie das gelingen kann? Hier gibt’s mehr Details dazu.

 

 

Ein paar Take-Aways

Spirituelle Gesundheit verstanden als Sinn im Leben und Verbundenheit zu etwas größerem Ganzen ist ein altes Thema – und gewinnt jetzt wieder an neuer Bedeutung, gesellschaftlich und wissenschaftlich.

Unsere Gesundheit hat viele Facetten, die sich allesamt wechselseitig bedingen. Unser Wohlbefinden und unsere Resilienz sichern wir nachhaltig nur, wenn wir alle Aspekte berücksichtigen.

Möglicherweise gibt es Unterschiede zwischen Sinnerfahrungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Aber entlastend scheint auch zu sein, dass wir mit der Lebenserfahrung an Glückseligkeit und Sinnhaftigkeit im Leben gewinnen.

From Mindset to Meaning – Foundations of Logopreneurship

Entrepreneurs who are resilient have a strong mindset. Entrepreneurs who stay resilient have a strong sense of meaning.

They are called logopreneurs.

What keeps them strong and successful is their deep sense and experience of meaning as well as the importance of values for their business and everyday life. They build their life on personal values. This also keeps them healthy, physically and mentally.

In leading their life freely and responsibly, and by consciously dealing with their failures and limitations, logopreneurs not only develop their business, but become entrepreneurs of their future. They shape the future today.

Logopreneurship is the conscious process of responsibly leading one‘s business and/or everyday life based on values and the will for meaning, even and especially in the face of risks and challenges.

From mindset to meaning – Foundations

For years, the ability to become an entrepreneur was thought to be linked to individual personality traits that people simply have (or don’t have). But it’s more likely to be linked to a particular way of thinking. There is lots of research about what constitutes such an entrepreneurial mindset. While such a cognitive perspective can help you on your way to becoming an entrepreneur, it’s not sufficient to keep you going and stay determined. What you really need to develop, build and run your own business is a strong motivation. Guess what!

The famous psychologist Abraham Maslow (you may know him from his pyramid of needs) and the psychiatrist Viktor Frankl agreed on the following: meaning is the strongest motivation in life. 

The good news? Frankl, psychiatrist and also the founder of logotherapy (meaning-centered psychotherapy), said that we can always find meaning in life. The “bad” news? We are responsible for it. It’s up to us to answer life’s questions, not the other way round. It is your decision to fulfill this responsibility.

It is important to note that meaning can never be “given” or “provided” by someone else. Yet, an entrepreneur can, for example, create an environment where he supports his employees to find meaning themselves.

Following your personal sense of meaning, you’re on the best way to becoming a logopreneur. Still, the question remains: how do we find meaning in life, especially in difficult times?

The value of (your) values

According to Frankl, values are opportunities to realize meaning. There are even different categories of values, hence, different potential sources of meaning: creative (doing or creating something meaningful), experiential (experiencing something or someone as meaningful), and attitudinal values ((re-) discovering a meaningful attitude towards something, they may not be able to change).

Following this line of thought, entrepreneurs themselves can experience meaning in three ways according to the different types of values:

  • First, by realizing creative values, e.g. by providing a service, innovating a product, or managing a project. Sustainability criteria can form the basis for this.
  • Second, by realizing experiential values, such as conversations with a colleague, enjoying lunch break with the whole team or receiving support in a difficult situation. It can also be a successful, high-results meeting.
  • Thirdly, by (re)discovering a meaningful attitude towards something that they may not be able to change, e.g. by accepting economic instability or tensions in society (realizing attitudinal values) or from framework conditions that they cannot change themselves.

Becoming and staying resilient

In general, it is important that we don’t focus on one value only. As a logopreneur you are able to identify and actively integrate different sources of value in your business and life. It is not recommended to base your motivation on only one source of meaning (aka value), e.g. the great team spirit, the innovative character or the product.

Rather, logopreneurs integrate quite different sources of meaning, such as the product’s contribution to society, the feeling of solidarity within the team, or the resilience to remain determined even in times of uncertainty.

Dreams vs. possibilities

While this all sounds great (possibly), but you, the reader, may be wondering what to do when you are constrained by external conditions, such as volatile markets or regulatory requirements. How do you fulfill your responsibility to realize values and experience meaning when there are so many constraints? The key is to identify and act within your areas of freedom.

This means first of all gaining clarity about those aspects and areas of your life where you can actually make a difference, however big or small. Once identified, consider what the next step is that you can take, given your time, financial and personal resources. Secondly, it’s important to identify the aspects that you can’t change (any more), even though they may still bother you. Frankl reminded us that we can’t always change the things around us, but we always have the freedom to change our attitude to the situation.

As a logopreneur, you distinguish between the realm of freedom (change is possible) and the realm of fate (change is not possible – no more).

Wherever change is possible, it’s up to you to make a conscious decision and take the necessary steps to move in the direction you want. It helps to remember that you are human, which means that you have both the freedom of will and the responsibility to act on it.

Shifting perspectives from “why?” to “what for?”

Where change is (no longer) possible, you move into acceptance and train to change perspectives. It can be helpful to ask „what for?“ instead of „why?“. While the question „why?“ often keeps us stuck in the past and puts us in a rather passive position, the question „what for?“ opens up a perspective for the future. As a logopreneur, you can ask yourself „What does this challenge me to do now?“ and use the answers as a way forward, as an active creator of your business (and life).

In this way, you are not only equipped with a strong sense of responsibility, but you also gain resilience in conditions that are often complex and uncertain.

Impact

The impact of an entrepreneurial mindset built on logotherapeutic principles yield results on different levels of the entrepreneur’s environment, not least because “[T]hose who demand performance must offer meaning” (Böckmann, 1984, title; own translation). It all comes back to leading yourself and therefore being able to lead others.

On a personal level, a logopreneur whose mindset is rooted in values and meaning is better equipped regarding setbacks, disappointments or economic downsides than entrepreneurs without this grounding. Academic results further indicate that a sense of purpose in life is also beneficial to overall health. It is possible to find meaning in creative endeavors, special experiences and even in suffering, which in turn leads to greater resilience over time.

Looking at a logopreneur’s leadership qualities, he is able to offer spaces for personal discovery of meaning to his employees, while successfully contributing to the business. Research shows that leaders can actually support their employees’ positive work experience and personal well-being in helping them connect with a bigger purpose.

On a systemic level, this philosophical, even psychohygienic, view influences humanity. Each individual is responsible for his or her own attitudes and actions. Not only the immediate environment of the individual, but also broader relationships of a logopreneur are of sustainable importance.

In a nutshell

  1. In addition to having a strong entrepreneurial mindset, logopreneurs build their business and their lives on a deep sense of meaning, a trust in meaning. This is the strongest motivation.

  2. Values serve as sources of meaning, and a logopreneur can realise different values through their business, making them particularly resilient in turbulent times.

  3. The ability to distinguish realistic possibilities from impossible dreams and the responsibility to take action is what characterises a logopreneur.

  4. The question „what for?“ (not „why?“) is what guides the logopreneur through daily life and critical phases, thereby actively creating his future.

  5. When the logopreneur applies the core principles of logotherapy to his business and his life, the effects will be felt on several levels, namely personal, social, systemic.

 

© Dr. Nina Bürklin, 2023.

10 Principles for a Good Lifestyle

These principles are pretty straightforward, especially principle #10. You’ll be surprised!

  1. A good lifestyle is innovative

The possibilities for innovation are not, by any means, exhausted. Technological development is constantly offering new starting points for sustainable design to enhance people’s well-being. But an innovative lifestyle is always created in tandem with innovative technology, and can never be an end in itself.

  1. A good lifestyle empowers people

We develop a lifestyle to be applied on a daily basis. It has to satisfy certain criteria, not only functional, but also psychological and aesthetic. A good lifestyle enables people to use their potential whilst disregarding anything that could possibly detract from it.

  1. A good lifestyle is beautiful

The aesthetic quality of a lifestyle is integral to its usefulness because a lifestyle that we pursue on a daily basis affects our environment and well-being. But only a well-executed lifestyle can be beautiful.

  1. A good lifestyle makes values tangible

It clarifies the meaning of everyday life. Better still, it can make the values speak for themselves. At best, the possibilities to realize meaning reveal themselves.

  1. A good lifestyle is unobtrusive

Lifestyles fulfilling a purpose are like tools. They are neither decorative displays nor works of art. Their design should therefore be both neutral and restrained, to leave room for the person’s self-expression.

  1. A good lifestyle is honest

It does not make a person appear more innovative, efficient, creative than she really is. It does not attempt to manipulate humans by making promises that cannot be kept.

  1. A good lifestyle is constant

It avoids current trends and is geared to our actual needs. Unlike short-lived fashion hypes, it lasts many years – even in today’s throwaway society.

  1. A good lifestyle is responsible down to the last detail

Nothing must be arbitrary or left to indifference. Awareness and mindfulness in shaping our life are ultimately an expression of respect for ourselves and others.

  1. A good lifestyle is environmentally-friendly

Our lifestyle makes an important contribution to the preservation of the environment. It conserves resources and minimizes physical and visual pollution throughout the areas it affects.

  1. A good lifestyle is as little style as possible

Less, but better – because it concentrates on the essential aspects, and everyday life is not burdened with non-essentials.

Back to purity, back to simplicity.

 

 

Inspired by „10 Principles for good design“ by Dieter Rams.

© Dr. Nina Bürklin, 2023.